Der Sommermörder
weißen Hemd, feine Silberfäden im dunklen Haar, eine Spur von einem Doppelkinn und erste Falten, die sich allmählich in seine hohe Stirn einzugraben begannen. Alles in allem ein recht elegant wirkender Mann. Seltsamerweise fand ich schon immer, dass er am besten aussah, wenn er spät abends völlig erschöpft zur Tür hereinkam. Am frühen Morgen, bevor er seine Anwaltsmaske aufsetzte und zur Arbeit fuhr, war er hektisch, nervös und zerstreut. Jetzt zog er geschafft seine Jacke aus, hängte sie vorsichtig über eine Stuhllehne und ließ sich dann mit einem Seufzer aufs Sofa sinken. Sein Hemd war unter den Armen nass geschwitzt. Ich ging in die Küche und kam mit zwei Weingläsern zurück. Der Weißwein war sehr kalt, direkt aus dem Kühlschrank. Mir brummte noch immer der Kopf.
»Ich hatte heute einen ziemlich seltsamen Tag«, begann ich.
»Oh, wirklich?« Er zog die Schuhe aus, lockerte die Krawatte und schaltete auf einen anderen Fernsehsender um. »Erzähl.«
Ich glaube, ich erzählte die Geschichte ziemlich schlecht. Es gelang mir nicht, ihm zu vermitteln, wie eigenartig das alles gewesen war und wie ernst die Polizei es genommen hatte. Nachdem ich fertig war, trank Clive einen Schluck Wein, löste den Blick vom Bildschirm und sah mich an. »Schön, dass endlich mal jemand deine Haut zu schätzen weiß, Jens.« Dann fügte er hinzu:
»Der Kerl ist bestimmt nur ein harmloser Spinner. Ich möchte nicht, dass hier weiterhin Scharen von Polizisten herumlaufen.«
»Ganz meine Meinung. Eine verrückte Geschichte, nicht wahr?«
4. KAPITEL
ch gehe nie nach unten, bevor ich mein Make-up aufgelegt h
I
abe, nicht einmal am Wochenende. Das wäre für mich, als würde ich nackt herumlaufen. Sobald ich morgens die Haustür hinter Clive zufallen höre, stehe ich auf und stelle mich unter die Dusche. Ich schrubbe meinen Körper mit einem Massagehandschuh, um all die toten Hautzellen loszuwerden. Dann setze ich mich an meine Frisierkommode, die laut Clive aussieht wie ein Möbelstück aus dem Wohnwagen eines Starlets. Rund um den Spiegel sind grelle Lampen angebracht, sodass ich mein Gesicht genau inspizieren kann. Gestern habe ich in meinen Augenbrauen ein paar graue Haare entdeckt, und immer wieder finde ich Falten, die ich letztes Jahr noch nicht hatte, schreckliche kleine Furchen über der Oberlippe, von denen sich links und rechts eine bis zu meinen Mundwinkeln hinunterzieht und meinem Gesicht ein schlaffes, deprimiertes Aussehen verleiht, wenn ich müde bin. Außerdem bekomme ich langsam Tränensäcke, und manchmal tun mir die Augen weh, wahrscheinlich von dem vielen Staub im Haus. Ich habe nicht die Absicht, jetzt schon mit einer Brille herumzulaufen.
Meine Haut besitzt nicht mehr ihre jugendliche Frische, egal, was dieser Idiot in seinem Brief geschrieben hat.
Früher hatte ich wirklich mal schöne Haut. Als Clive mich kennen lernte, sagte er zu mir, ich hätte eine Haut wie ein Pfirsich. Aber das ist lange her. Inzwischen spart er mit solchen Komplimenten. Manchmal denke ich mir, dass es wichtiger wäre, solche Dinge dann zu äußern, wenn sie nicht mehr der Wahrheit entsprechen. Wenn ich in den Spiegel sehe, habe ich gelegentlich das Gefühl, dass meine Haut inzwischen mehr einer Grapefruitschale ähnelt. Als ich mich kürzlich für das Schulfest fertig machte und in mein grünes Kleid schlüpfte, sagte Clive zu mir, ich solle etwas anziehen, womit ich die Kinder nicht in Verlegenheit bringen würde.
Ich stelle sicher, dass zwischen meinen Augenbrauen oder – Gott bewahre! – auf meinem Kinn keine einzelnen Härchen sprießen, und beginne dann mit der Grundierung, die ich mit einer Feuchtigkeitscreme mische, damit sie sich leichter auftragen lässt. Dann kommt dieser wundervolle Faltenabdeckstift rund um die Nase und unter die Augen. Meine Freundin Caro hat mich darauf gebracht. Er ist unglaublich teuer. Manchmal versuche ich auszurechnen, wie viel Geld ich im Gesicht trage.
Tagsüber muss alles unsichtbar sein. Nur ein Hauch von beigem Lidschatten, eine Spur Eyeliner, Wimperntusche, die die Härchen nicht verkleben lässt, und vielleicht ein wenig Lipgloss. Dann geht es mir besser. Ich mag das kleine, ovale Gesicht, das mich aus dem Spiegel munter ansieht, bereit, sich der Welt zu stellen.
Beim Frühstück ging es wie immer drunter und drüber.
Mitten in dem ganzen Chaos klopfte es auch noch an der Tür. Polizeibeamtin Lynne Burnett, heute allerdings in Zivil. Sie trug einen grauen Rock, eine
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