Der Sommermörder
mein Gesicht zu knochig wirken.
Während der Heimfahrt machte mich der dichte Verkehr so nervös, dass ich an jeder roten Ampel genervt den Motor aufheulen ließ. Lynne blieb geduldig hinter mir.
Manchmal fuhr sie so nahe auf, dass ich im Rückspiegel ihre Sommersprossen sehen konnte. Ich streckte ihr die Zunge raus, weil ich wusste, dass sie es nicht bemerkte.
Den Rest des Tages folgte sie mir wie ein treuer Hund –
einer, dem ich am liebsten einen Tritt verpasst hätte. Sie kam mir sogar nach, als ich mit Chris ein Stück die Straße entlangging, damit er mit seinem Freund spielen konnte, einem dürren kleinen Jungen namens Todd. Wie konnte man seinem Kind bloß einen solchen Namen geben?
Später musste ich die beiden Großen von der Schule abholen, weil Lena ihren freien Nachmittag hatte. Die Mittwoche sind immer ein Albtraum. Josh besucht nach dem Unterricht noch einen von der Schule organisierten Computerkurs, der in einem Container abgehalten wird, in dem es penetrant nach den Schweißfüßen der Jungen riecht. Wenn ich dort eintreffe, steckt er normalerweise mit einem anderen Jungen zusammen, der sich Scorpion oder Spyder nennt oder sonst einen albernen Spitznamen hat. Josh selbst nannte sich immer Ganymede, bis er letzte Woche zu dem Schluss kam, dass dieser Name zu weibisch klang, und sich in Eclipse umtaufte. So lautet jetzt auch sein Passwort. Sein bester Freund nennt sich Freak, allerdings mit Ph und ee geschrieben: Phreek. Sie nehmen das alle wahnsinnig ernst.
An diesem Abend aber saß Josh zusammengesunken in einem Sessel, und neben ihm kauerte der recht sympathisch aussehende junge Mann, der sie jede Woche unterrichtete, und redete eindringlich auf ihn ein. Ich musste daran denken, wie er mir bei unserer ersten Begegnung vor ein paar Wochen gesagt hatte, dass ihn jeder im Club Hacker nenne. Ich hatte das Gesicht verzogen, woraufhin er mir erklärte, dass das gar nicht sein richtiger Name sei und ich ihn auch Hack nennen dürfe. »Ist das denn Ihr richtiger Name?«, hatte ich gefragt, aber er hatte nur gelacht.
Die Jungs trugen alle noch ihre Schuluniform, aber Hack hatte eine alte, zerrissene Jeans und ein mit japanischen Schriftzeichen bedrucktes T-Shirt an. Er war selbst noch ziemlich jung und besaß langes, lockiges dunkles Haar.
Fast wäre er selbst noch als Schüler durchgegangen.
Zuerst befürchtete ich, dass Josh Nasenbluten oder gar einen Unfall gehabt hatte, aber als ich näher kam, blickten sie beide auf, und ich sah, dass seine Augen vom Weinen ganz rot waren. Bestürzt starrte ich ihn an. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich Josh zum letzten Mal weinen gesehen hatte. Es ließ ihn jünger und verletzlicher erscheinen. Wie dünn und blass er war, dachte ich. Trotz seiner pickeligen Stirn und seines ausgeprägten Adamsapfels kam er mir plötzlich wieder wie ein kleiner Junge vor.
»Josh! Alles in Ordnung? Was ist passiert?«
»Nichts.« Sein Ton klang eher mürrisch als betrübt.
Abrupt stand er auf. »Wir sehen uns nächstes Schuljahr.
Also dann, bis September, Hack.«
Der Typ nannte sich tatsächlich Hack. Kein Wunder, dass Josh so aufgelöst wirkte.
»Was ist mit ihm los?«, fragte ich, nachdem Josh den Container verlassen hatte.
»Was? Ach das!«, antwortete er mit einer Handbewegung in die Richtung, in die Josh gerade verschwunden war. »Nichts Tragisches, Mrs. Hintlesham.«
»Jenny«, korrigierte ich ihn wie jede Woche. »Nennen Sie mich Jenny.«
»Tut mir Leid. Jenny.«
»Er hat ziemlich aufgeregt gewirkt.«
Hack schien sich deswegen keine Sorgen zu machen.
»Wahrscheinlich wegen der Schule oder weil jetzt Sommerferien sind, irgendwas in der Art. Außerdem hat er am Bildschirm gerade eine schwere Schlappe erlitten.«
»Vielleicht hat er Unterzucker.«
»Ja, bestimmt. Geben Sie ihm ein bisschen Zucker, Jenny.«
Ich sah Hack ins Gesicht. Konnte es sein, dass er mich auf den Arm nahm?
Harry befand sich auf der anderen Seite der Schule, in der großen, zugigen Aula, die einmal im Jahr, wenn das Schulstück aufgeführt wurde, auch als Theatersaal herhalten musste. Als Josh und ich den Raum betraten, sahen wir Harry mit knallrotem Gesicht an der Seite der Bühne stehen. Er trug ein gelbes Kleid über der Hose und eine Federboa um den Hals. Sein Anblick schien Josh beträchtlich aufzuheitern. Auf der Bühne tummelte sich ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Jungs, die zum Teil ebenfalls Kleider trugen.
»Harry!«, rief ein rundköpfiger Mann mit
Weitere Kostenlose Bücher