Der Sommermörder
Garantiescheine, Lieferscheine, Schreiben von Steuerberatern. Bei ihrem Anblick empfand ich so etwas wie Liebe für Clive. Das alles machte er, damit ich es nicht tun musste. Mir überließ er den interessanten, kreativen Teil, den langweiligen übernahm er. Alles davon war erledigt, alles geregelt. Es war nichts offen, keine Rechnung unbezahlt, kein Brief unbeantwortet. Was hätte ich bloß ohne ihn angefangen? Die einzelnen Papiere sah ich mir nicht näher an, ich wollte nur sichergehen, dass die Ordner tatsächlich nur Akten enthielten.
Ich schloss den zweiten Aktenschrank. Das war alles so idiotisch. In diesem Arbeitszimmer gab es nichts, was für die Polizei auch nur im Entferntesten von Interesse sein konnte, außer vielleicht die Hypothekendokumente.
Ansonsten verschwendeten sie lediglich ihre Zeit. Das hätte ich ihnen gleich sagen können, wenn sie mich gefragt hätten.
Ich rollte die Schreibtischabdeckung zurück. Das verursachte ziemlich viel Lärm, sodass ich mich nervös umblickte. Ich achtete darauf, nichts zu tun, was nicht innerhalb weniger Sekunden rückgängig zu machen war, falls es unten an der Haustür klingeln sollte. Wie nicht anders zu erwarten, fand ich nichts Interessantes. Es war eine von Clives Grundregeln, seinen Schreibtisch stets in aufgeräumtem Zustand zu verlassen. Auf der Arbeitsfläche befanden sich nur Kugelschreiber, Bleistifte, Radiergummis, ein ziemlich teurer elektrischer Bleistiftspitzer, Gummibänder und Büroklammern, alles in speziell dafür vorgesehenen Behältnissen. Die Fächer enthielten Umschläge, Notizzettel, Visitenkarten, Adressenaufkleber. Immerhin würden die von der Polizei beeindruckt sein, wenn sie schon sonst nichts fanden.
Blieben nur noch die Schubladen. Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl und zog die flache Schublade über meinen Knien heraus. Lauter Ansichtskarten. Alle unbeschrieben. Dann die Schubladen zu beiden Seiten.
Scheckbücher, neue und leere. Urlaubsprospekte für den Winter. Eine Menge Papierkram von Matheson Jeffries, wo Clive arbeitete.
In der untersten Schublade rechts lagen mehrere große, prall gefüllte braune Umschläge. Ich inspizierte den obersten. Er enthielt lauter handgeschriebene Briefe.
Immer dieselbe Unterschrift. Ich sah mir einen davon etwas genauer an. Es handelte sich um einen langen, drei Seiten umfassenden Brief. Unterschrieben mit Gloria. Mir war klar, dass es kaum einen schlimmeren Vertrauensbruch gab, als unerlaubterweise die persönlichen Briefe eines anderen Menschen zu lesen.
Außerdem erfuhr man dabei nur selten etwas Gutes über sich. Ich wusste, dass ich sie nicht lesen durfte. Das einzig Richtige wäre gewesen, sie sofort zurückzulegen, endlich schlafen zu gehen und mir das Ganze aus dem Kopf zu schlagen. Gleichzeitig musste ich daran denken, dass diese Briefe am Morgen wahrscheinlich von der Polizei gelesen werden würden, wenn auch aus anderen Beweggründen.
War es da nicht besser, zumindest eine ungefähre Vorstellung von ihrem Inhalt zu haben?
Ich entschloss mich zu einem Kompromiss, indem ich die Briefe nur überflog und hin und wieder einen Satz oder ein Wort las. Eigentlich hätte es schwierig sein müssen, auf diese Weise einen Eindruck von ihrem Inhalt zu bekommen, aber irgendwie schienen mir bestimmte Worte und Formulierungen regelrecht ins Auge zu springen: Liebling … du fehlst mir so … musste an letzte Nacht denken … zähle die Stunden. Seltsamerweise empfand ich anfangs keine Wut auf Clive, nicht einmal auf Gloria, sondern nur Verachtung, weil ihre Briefe so abgedroschen klangen. Müssen sich Leute, die heimliche Affären haben, immer in den gleichen, alten, abgenutzten Phrasen ausdrücken? Hatte Clive das wirklich nötig? Dann musste ich an den Abend denken, an dem ich Gloria kennen gelernt hatte, daran, wie sie sich während des Essens zu Clive hinübergebeugt und ihm etwas zugeflüstert hatte.
Meine Wangen begannen zu brennen. Vorsichtig schob ich die Briefe zurück in den Umschlag. Den letzten hatte sie ihm erst vor kurzem geschrieben.
Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen. Es kam bestimmt nichts Gutes dabei heraus. Bloß noch mehr Schmerz, noch mehr Erniedrigung.
Nur noch ein kleines Stück. Einen ganzen Absatz, nicht nur einen einzelnen Satz. Ich würde Gloria einen ganzen Absatz lang die Chance geben, sich darzustellen. Den letzten Absatz des jüngsten Briefes. Ich wollte wissen, wo ich stand.
»Aber jetzt muss ich aufhören, Liebling. Ich schreibe diesen
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