Der Sommernachtsball
von Stanton gehen schon eine halbe Stunde vor Einbruch der Dämmerung an, und auch die besseren Hotels lassen ihre goldenen Lampen erstrahlen, um das sich übers Meer senkende Abendgrau im Zaum zu halten. In den schmucken Villenvierteln tummeln sich dann in sorgfältig gepflegten, blühenden Gärten weiß gekleidete junge Leute, eben erst vom Tennis zurück. Lachend, mit einem Drink in der Hand, besprechen sie die bevorstehenden Vergnügungen des Abends oder des nächsten Tages. Alles erweckt den Eindruck, dass Stanton im Sommer eine einzige nicht endende Party feierte, bei der Trübsal nicht zugelassen ist.
Ein sauberes, sorgfältig geplantes Städtchen. Kein Gebäude, das vor 1900 gebaut worden wäre, und Elendsviertel gab es schon gar nicht. Hübsche kleine gediegene und teure Läden: Viele exklusive Londoner Firmen hatten hier Zweigstellen errichtet. Die Luft war so ausgezeichnet, wie Ostküstenluft nur sein kann. Manche schworen dagegen, dass die Luft in Bracing Bay noch besser sei (das ursprünglich Clackwell geheißen hatte, vom Bürgermeister und der Handelskammer aber umgetauft worden war, weil sich das so gewöhnlich anhörte und die Schönheit des Orts nicht richtig zur Geltung brachte – will heißen nicht genug Publikum anzog). Aber im acht Meilen von Stanton entfernt gelegenen Bracing Bay lag oft ein Geruch nach Muscheln und Strandschnecken in der Luft, was in Stanton nicht der Fall war, denn in Stanton gab es keinen Pier, in Bracing Bay dagegen zwei, und Piers ziehen, wie jeder Küstenbewohner weiß, Muscheln und Strandschnecken an. Stanton war ein munterer, wohlbetuchter, versnobter kleiner Ort mit einer Aura von teuren Vergnügungen. Hetty Franklin verabscheute ihn mehr als jeden anderen, weil ihm sämtliche Extreme fehlten.
Ein kleines Mädchen im grauen Faltenrock und dem Blazer einer teuren Privatschule (niemand lief in Stanton schäbig herum) streunte mutterseelenallein am Strand umher und suchte nach den typischen blassrosa Muscheln, die es hier in Stanton und auch in Bracing Bay gab – natürlich gab es sie auch woanders, aber den Leuten kam es so vor, als gehörten diese Muscheln zu diesen beiden Orten, dem noblen und dem ordinären, die, nur acht Meilen voneinander entfernt, an der Küste von Essex lagen.
»Du suchst wohl nach Muscheln, was?«, fragte Viola, die traurig und gelangweilt ihren üblichen abendlichen Strandspaziergang machte.
»Ja«, antwortete das Mädchen misstrauisch und ohne aufzublicken. Man hatte es davor gewarnt, mit Fremden zu reden. Langsam hüpfte es weiter den Strand entlang, den Kopf suchend über den Sand gebeugt, und holte so viel wie möglich aus der letzten Viertelstunde vor dem Zubettgehen heraus. Gelegentlich stürzte es sich auf eine der begehrten Muscheln.
Es ist mir hier einfach ein bisschen zu nobel, überlegte Viola. Wir sind jetzt schon seit fast drei Wochen hier, und ich habe noch niemanden kennengelernt. Das einzig Gute ist es, dass man sich abends zum Dinner immer schön anziehen muss. Abgesehen davon hätte ich nichts dagegen, wieder nach Hause zu fahren.
Doktor Parshams Urteilspruch über Mr. Wither hatte keinen Grund zur Beunruhigung dargestellt, doch sei seine Leber ein wenig angeschlagen und er empfehle deshalb einen Aufenthalt im Lake District, an den Seen, wo die Luft milder war als an der raueren Küste. Die Withers, die ihren Urlaub immer in Stanton verbrachten, waren außer sich gewesen. Man hatte tagelang bis zur Erschöpfung diskutiert, Tränen waren geflossen, doch schließlich hatte man sich auf eine Lösung geeinigt: Mr und Mrs Wither würden mit Madge zu den Seen reisen, wo sie mit dem Auto Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend machen konnten (soweit es dort welche gab), während Tina und Viola die vier Wochen Urlaub wie immer im White Rock Hotel in Stanton verbringen würden.
Tina hatte ihren Vater angefleht, sie nach Stanton zu lassen, sie hatte erklärt, sie würde sterben, wenn sie keine Seeluft bekäme, obwohl sie sich gerade in letzter Zeit einer offensichtlich blühenden Gesundheit erfreute und ein paar Pfund zugelegt hatte. Aber Mr Wither hatte die ganze Streiterei so ausgelaugt, dass er schließlich nachgegeben und Tina ihren Willen gelassen hatte. Das Einzige, worauf er bestand, war, dass Viola sie begleiten müsse, denn Inhaber und Personal des White Rock Hotels – wo die Withers sehr geschätzt wurden – würden es seltsam finden, wenn sie allein käme. Polo wurde von Colonel Phillips in Pflege genommen,
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