Der Sommernachtsball
das Automobil wurde eingemottet und Saxon mit einem Monatsgehalt in Urlaub geschickt. Den Dienstmädchen wurde erlaubt, in Abwesenheit der Familie Freunde im Haus zu empfangen. Und dann reiste man ab.
Wie gemein Tina ist, grübelte Tinas Schwägerin. Sie wandte sich von der dunkel werdenden See ab und ging langsam über den Strand zurück zu den blinkenden Lichtern der Promenade. Auch wenn es ihr nicht passt, dass ich mitgekommen bin (Was sie für ein Gesicht gemacht hat, als Mr Wither darauf bestand!), sie braucht trotzdem nicht so gemein zu sein. Andauernd ist sie weg und lässt mich allein, um ihre blöde Freundin Elenor Lacey zu besuchen, und nie sagt sie Bescheid, wann sie da sein wird und wann nicht. Dabei war sie mal so nett; ich weiß auch nicht, was auf einmal in sie gefahren ist. Sie braucht gar nicht denken, dass ich gern hier bin – bis auf das Ankleiden zum Dinner ist es hier schrecklich.
Aber der Gedanke ans Ankleiden heiterte sie ein wenig auf. Als sie die Holzstufen erreichte, die zur Promenade hinaufführten, drehte sie sich noch einmal um und ließ den Blick übers Meer schweifen. Wie riesig und wie traurig es war! Auch ihre Miene wurde traurig. Wenn man da rüberspringen könnte, würde man dann direkt in Frankreich landen? Ob ER in Frankreich ist? Und was ER wohl macht? Sie küssen, wahrscheinlich. Ich wünschte, ich wäre tot. Na, nicht tot, aber im Kloster oder so was. Ach, wenn doch nur was richtig Schönes passieren würde!
Der Leser wird inzwischen wahrscheinlich gemerkt haben, dass Viola weder besonders leidenschaftlich noch tiefsinnig war; dennoch war ihrer eher oberflächlichen Natur von Victor eine so tiefe Wunde zugefügt worden, wie es bei ihr nur möglich war. Sie war so unglücklich, sie war selbst überrascht über die Symptome: Wie sie beim kleinsten Anlass in Tränen ausbrach, immer dünner wurde, Herzrasen und Hitzewallungen bekam. Sie versuchte ernsthaft, sich wieder in den Griff zu kriegen. Viola, du dumme Gans, sagte sie sich, jetzt reiß dich doch mal zusammen. Hast du denn gar kein Rückgrat, würde Shirley sagen. Aber es nützte nichts: Ihre Warmherzigkeit, ihre gesunden jugendlichen Sinne und ihre romantische Ader, sie alle verschworen sich gegen sie und führten dazu, dass ihre Gedanken ständig zurückflogen, zu jenen Momenten im Sommerhäuschen, zurück in Victor Springs Arme.
Das Schlimmste war, dass sie sich einfach nicht dazu bringen konnte zu glauben, dass es wirklich vorbei war, dass er eine andere heiraten würde. Tagsüber lag sie in einem Liegestuhl am Strand (auf dem Schoß einen Liebesroman), die Füße in den weißen Leinenschuhen über Kreuz gelegt, den aschblonden Lockenkopf zurückgelehnt und träumte vor sich hin. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete sie all die gut gekleideten, gut gelaunten Menschen, die an ihr vorbeischlenderten. Das Schlimmste an diesen Träumereien ( dumme Träumereien, wie Viola sie streng bezeichnete) war, dass es so schlimm war, wieder daraus in die Wirklichkeit zurückzufinden, wenn es zum Beispiel Zeit fürs Mittagessen wurde. Tina war keine Hilfe. Wenn sie überhaupt mal zum Mittagessen auftauchte, starrte sie mit Kuhaugen vor sich hin und mampfte eine ganze Menge in sich hinein, und wenn die Nachspeise kam, verkündete sie, dass sie wieder zu Elenor zurück müsse und ob Viola etwas dagegen hätte? Und natürlich konnte Viola nicht nein sagen.
Diese Elenor lebte etwa zwei Meilen außerhalb von Stanton, in einem kleinen Ort namens Rackwater, den man mit dem Bus erreichte. Ihr Mann war kriegsversehrt. Elenor und Tina waren alte Schulfreundinnen, und es war nicht leicht für Elenor, mit einem invaliden Ehemann. (Nicht, dass sie ihn nicht liebte, aber eine Bürde war er schon.) Deshalb fuhr Tina zu ihr, sooft sie konnte, und setzte sich zu dem Invaliden in den Garten und beschäftigte sich mit ihm, damit Elenor ungestört den Haushalt erledigen konnte. Als Viola (immer aufgeschlossen für neue Erfahrungen) sich erbot, mitzukommen und bei der Unterhaltung des Kranken zu helfen, lehnte Tina ab. Das sei sehr nett von Viola, aber Adrian Lacey könne keinerlei Aufregung vertragen, deshalb sei der Besuch von fremden Leuten Gift für ihn.
Viola wusste ganz genau, was mit Tina los war. Sie hatte sich in den kriegsversehrten Ehemann verliebt, deshalb fuhr sie andauernd dorthin und blieb den ganzen Tag da, manchmal sogar auch noch abends, wenn der Mond schon über dem weiten Meer stand. Dass muss schrecklich für Elenor
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