Der Sommernachtsball
Witwe. Und wenn’s jetzt später deswegen einen fürchterlichen Krach gibt, wird man mir die Schuld geben, weil ich sie nicht davon abgehalten habe. Aber halte mal jemanden von etwas ab, das er sich in den Kopf gesetzt hat! Also, ich würde ja niemanden küssen wollen, der ganz dürr und ausgezehrt und krank ist und außerdem verheiratet. Komisch, diese Tina.
Von unten drang gedämpfte Musik herauf: Die Hotelkapelle spielte im Palmengarten auf. Es war zwar nicht Die lustige Witwe , aber Violas Augen füllten sich trotzdem mit Tränen.
Dem sensiblen und intelligenten Leser wird es inzwischen sicherlich sonderbar vorkommen, dass ein so hübsches und liebes Mädchen wie Viola noch keinerlei Bekanntschaften gemacht hatte. Keine männlichen Bewunderer, keine fröhliche Clique von Gleichaltrigen. Dafür gab es jedoch ein paar gute Gründe: Zunächst mal waren sämtliche Männer im White Rock Hotel in Damenbegleitung; aber selbst wenn diese Damen Schwestern oder Mütter waren, schreckten die Männer davor zurück, Viola anzusprechen. Das lag daran, dass sie zum einen zu hübsch, zum andern zu traurig und zum dritten zu einsam war (denn Tina war ja die meiste Zeit bei Elenor Lacey). Und das machte sie auffällig, ja, verdächtig. Und wenn es etwas gibt, wovor der Durchschnittsmann zurückschreckt, dann sind das verdächtig auffällige Damen. Hätte man einem Durchschnittsmann die Gelegenheit (und die finanziellen Mittel) geboten, eine Woche lang eine Filmdiva auszuführen, dann hätten neun von zehn Durchschnittsmännern abgelehnt.
Wir erinnern uns außerdem, dass Violas Kleidung nicht ganz passend war, dass sie keine teuren Sportarten trieb und außerdem gar keine Dame war. Damit ist ihre Isolation im White Rock hinreichend erklärt.
Sie liebte es zwar, all diese schicken, munteren, wohlhabenden Menschen zu beobachten, von ihrem einsamen Tisch aus, den sie mit Romanen von Berta Ruck, Renée Shann und anderen Autoren trivialer Liebesgeschichten teilte, und sie wurde es nie müde, die Kleider ihrer Geschlechtsgenossinnen zu begutachten und sich vorzustellen, wie sie lebten, aber eins machte sie sich nie vor: Dass sie sich wohlfühlte. Dass sie diesen Urlaub genoss. Jung, ungebildet und ein wenig dümmlich, wie sie war, hatte sie es immerhin gelernt, echte Freuden von falschen zu unterscheiden. Sie hatte Shirley bereits geschrieben, wie wunderbar das White Rock Hotel sei, aber dass sie sich dort miserabel fühlte.
Auch an diesem Abend ging sie wie üblich mit einer vagen Hoffnung in den Speisesaal hinunter, unter dem Arm einen Roman mit dem Titel »Stürme der Leidenschaft«.
Der Speisesaal des White Rock Hotels war dem Deck eines Luxusliners nachempfunden, weswegen die Kellner dazu verdammt waren, in den Uniformen von Stewarts herumzulaufen. Die Wände waren mit Wellen und Möwen bemalt, die schmalen, gewachsten Holzbretter des Parketts sollten ein Schiffsdeck vorstellen. Über den Köpfen der Hotelgäste wölbte sich eine Freskodecke, auf der sich Meeresgötter, Delphine und Seejungfrauen tummelten, eine Geschmacksverirrung, die zu sehen die Leute aus nah und fern herbeieilten.
Der große Saal war nur zu einem Drittel gefüllt. Er wurde durchflutet vom kraftlosen silberweißen Licht einer indirekten Beleuchtung. Viola ging in ihr Eckchen, setzte sich und schlug ihr Buch auf. Aber bevor sie sich darin vertiefte, schaute sie sich im Saal um. Und das Erste, was ihr vor die Augen kam, war Victor Spring.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals und machte Sprünge, von denen ihr schwindlig wurde. Das Wunderbare – jetzt war es also eingetreten. ER war da. Dort saß er, an einem Tisch, gar nicht weit von ihr entfernt. Er trug einen normalen Straßenanzug, war also nicht in Abendgarderobe. Mit gelangweilter Miene studierte er die Speisekarte, den hellbraunen Haarschopf, der sie so sehr an einen jungen Soldaten erinnerte, über die Lektüre gebeugt. Während sie ihn noch anstarrte, hob er den Kopf, um einen Kellner herbeizuwinken – und sah sie.
Freudige Überraschung, gefolgt von Betretenheit, huschten über sein attraktives Gesicht. Er sagte etwas zu dem Kellner, dann erhob er sich und kam zu ihr an den Tisch.
»Na, so ein Glück! Erwarten Sie jemanden, oder darf ich mich zum Essen zu Ihnen setzen?«
»Ja. Nein, äh …«, stammelte sie und schob ihm den Salzstreuer hin. » Stürme der Leidenschaft« klappte sie schleunigst zu.
»Sie sind doch nicht allein hier, oder? Wo ist der Rest der Sippe?«, fuhr er unbekümmert fort,
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