Der Sommernachtsball
unglücklich war. Alte Leute (fand sie) freuten sich immer diebisch, wenn sie hörten, dass es einem gerade auch nicht gut ging. Ah, sagten ihre Gesichter, es ist also doch nicht alles Rosen und Sonnenschein, da siehst du mal! Glaub nicht, dass es dir nicht so geht wie uns, bloß weil du erst einundzwanzig bist. Wart’s ab, du wirst schon sehen.
Genau das hatte sie auch in Mr und Mrs Withers Gesichtern gelesen, als sie gestern Saxon an seinem freien Nachmittag in einem grauen Anzug am Haus hatten vorbeigehen sehen. Er sah darin genauso umwerfend aus wie in seiner Chauffeursuniform (was ihn von den meisten Chauffeuren unterschied, die in Zivil oft wie entflohene Zuchthaussträflinge aussahen).
Nicht dass Viola sich jetzt noch sonderlich für Saxon interessierte. Er war bloß ein Prolet, dessen Eltern heruntergekommen waren und dessen Dienste Mr Wither billig bekommen hatte, weil Saxon seine Kenntnisse in der Garage an der Wegscheide aufgeschnappt hatte und dies seine erste richtige Stelle war. Zuvor war er immer in der Garage herumgehangen und hatte kleine Aufgaben für den Besitzer erledigt. Als Mr Withers Chauffeur dann kündigte, weil er heiraten wollte, hatte sich Saxon um den Posten beworben. Seine Mutter lebte in einer kleinen Bruchbude auf der anderen Seite des Wäldchens, sie hatten kein Geld außer dem, was Mrs Caker als Gelegenheitswäscherin bekam, und den zwei Pfund, die Saxon als Chauffeur und Gärtner bei den Withers verdiente.
Saxons Vater war ein wohlhabender Müller gewesen, der sein gesamtes Vermögen versoffen hatte. Vor zehn Jahren hatte man ihn an einem verschneiten Weihnachtsmorgen ertrunken unter seinem eigenen Mühlrad gefunden.
»… ist sturzbetrunken reingefallen«, beendete Tina in verächtlichem Ton ihre Geschichte über Saxons Herkunft. Viola und Tina saßen zusammen am offenen Fenster in Violas Zimmer und flickten ihre Strümpfe.
»Dann heißt er gar nicht Saxon?«
»Doch, aber als er sich bei Vater um die Stellung bewarb, hat er gefragt, ob er Caker weglassen und ihn einfach Saxon nennen könnte, und Vater hat ja gesagt. Ist ja auch ein scheußlicher Name, ›Caker‹, meine ich.« Tina biss ihren Faden ab.
»Er ist ganz schön eingebildet, oder?«
»Ach, das ist nur seine Art. Er möchte heutzutage gern den perfekten Chauffeur abgeben, aber das war nicht immer so, glaub mir. Als ich in deinem Alter war und an den Wochenenden vom Kunststudium nach Hause kam, habe ich ihn immer mit einer Bande Gleichaltriger rumrennen sehen. Sie waren berüchtigt dafür, dass sie gern über Zäune stiegen und Äpfel klauten.« Tina ließ die Nadel in den Schoß sinken, wo die grauen Seidenstrümpfe lagen, die sie gerade flickte, und schaute abwesend aus dem offenen Fenster zum weiten Himmel hinauf. »Dauernd hat er was angestellt, er war frech und selbstbewusst, ließ sich durch nichts erschüttern. Er hat die Leute zum Lachen gebracht, wo sie doch eigentlich böse auf ihn sein wollten. Ich weiß noch, dass er immer einen löchrigen roten Pulli anhatte und wie seine Augen funkelten. Wie ein junger Wolf, hab ich immer gedacht, von raubtierhafter Geschmeidigkeit.«
Viola riss schmunzelnd ihre trägen grauen Schlafzimmeraugen auf. »Ach was! So schlimm?« Das war ihre Standardbemerkung, wenn jemand seiner Fantasie freien Lauf ließ.
Tina lachte verlegen. Sie ärgerte sich über sich selbst. Nein, so schlimm war es natürlich nicht. Ihr psychologischer Ratgeber lehrte sie, immer ehrlich mit sich zu sein. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr der Gedanke, Saxon mit einem jungen Wolf zu vergleichen, erst letzte Woche gekommen war und nicht vor zwölf Jahren. In Wahrheit hätte sie sagen müssen: »Wenn ich jetzt zurückdenke, dann finde ich, dass er ausgesehen hat wie ein junger Wolf«, und nicht: »Ich fand, er sah aus wie ein junger Wolf.«
Aber hatte er wirklich ausgesehen wie ein junger Wolf? Und wieso raubtierhaft und geschmeidig?
Blödes Buch! Zum Teufel mit der Ehrlichkeit, wo einen die bloß hinführte!
»Nun ja, er taugt sowieso nicht viel«, beendete sie gereizt das Thema, »skrupellos und ehrgeizig, nehme ich an.«
»Und seine Mutter? Wie ist die so?«
»Ach, eine fürchterliche alte Schlampe. Das heißt, so alt ist sie eigentlich gar nicht, aber sie hat ein hartes Leben, und du weißt ja«, sie biss erneut ihren Faden ab, »Menschen aus dieser Schicht altern schnell. Mutter erzählt immer, dass Mrs Caker früher mal die Dorfschönheit war. Ist mit ihrem Vater
Weitere Kostenlose Bücher