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Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gibbons
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niemand diese Frage. In den respektablen, wohlhabenden Kreisen, in denen Mr Spurrey sich bewegte, fragten sich die Leute nicht, was der Nutzen eines fünfundsiebzigjährigen Junggesellen ist, der in einem großen Haus am Buckingham Square lebt, fünf Bedienstete beschäftigt und nie ausgeht.
    Sicher, Mr Spurreys Name tauchte auf den Prospekten mehrerer reicher und angesehener Firmen auf, aber wenn man bedachte, wie viel er dafür tat, hätte er ebenso gut tot sein können. Verwandte hatte er keine mehr; er war der einzige Sohn eines einzigen Sohnes, und seine fernere Verwandtschaft war längst verstorben. Er hatte weder Hobbys noch sonstige Interessen. Er lebte einfach. Die Leute waren nett zu ihm. Hätte er in einem Stamm Wilder gelebt, er wäre längst bis zum Hals eingegraben und dem Tod überlassen worden. Wilde sind logisch denkende Kreaturen, heißt es (außer wenn es um ihre Tabus geht). Aber die Leute waren nett zu Mr Spurrey.
    Die Welt ist voll von solch alten Knaben, ohne Schönheit, Charakter oder Intelligenz, die sich nicht fortpflanzen, die weder Engel noch Teufel sind, ja nicht einmal besonders human. Und dennoch, wenn wir hören, dass einer von diesen Knaben eine Erkältung hat, sagen wir: »Der Arme, das liegt an dem abscheulichen Wetter.« Und wenn wir dem armen alten Knaben das nächste Mal begegnen, fragen wir ihn, wie es ihm geht und wie sehr wir es bedauern, dass er krank gewesen ist.
    Dies ist eins der kleineren Geschenke der Zivilisation an die Menschheit. Es erscheint einem gering; aber wenn wir beginnen würden, logisch über den Nutzen der Mr Spurreys dieser Welt nachzudenken, würde die Menschheit still und leise zugrunde gehen.
    Dabei war es nicht einmal einfach, nett zu Mr Spurrey zu sein, denn er hatte eine äußerst unangenehme Angewohnheit: Er liebte es, den Leuten Angst einzujagen. Er tat das, sobald er mit jemandem allein war.
    Kaum hatte sich die Tür hinter dem Butler geschlossen, kaum funkelte der Likör in der Karaffe, duftete der Kuchen vor sich hin, wenn dicke Asche von der Zigarre fiel oder die Teetasse an eifrige Lippen gehoben wurde – dann beugte sich Mr Spurrey (nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ein warmes Feuer im Kamin brannte und ihn keine unangenehme Zugluft störte) vor, senkte das Kinn, fixierte sein Gegenüber mit dem Blick eines Papageien und verkündete mit Grabesstimme:
    »Habe neulich was Fürchterliches gehört.«
    »Ach ja?« oder »Tatsache?« antwortete dann das wehrlose Opfer, das unter diesem Papageienblick erzitterte, vielleicht mit dem Mund voller Kuchen.
    »Entsetzlich«, bekräftigte Mr Spurrey. »Konnte es selbst kaum glauben, als ich es gehört habe.«
    Aber er glaubte es immer und sein Opfer am Ende ebenso. Auch wenn die meisten Menschen unter vierzig Mr Spurrey und seine apokalyptischen Neuigkeiten verlachten – Abessinien, die Bedürftigkeitsprüfung, Hitler und Mussolini, Aufrüstung und Faschismus, Abdankung des Königs und Spanien, Sonderzonen und Luftabwehr –, am Ende mussten all jene Spötter, wenn sie eines Morgens die Zeitung aufschlugen und die Schlagzeilen lasen, zugeben, dass Mr Spurrey doch recht gehabt hatte. Entsetzlich, so entsetzlich, dass man es erst gar nicht glauben wollte.
    Mein Gott, der alte Spurrey hat das schon vor Wochen gesagt, und ich hab ihn ausgelacht!
    Aber den alten Spurrey kümmerte es nicht, ob man ihn verlachte oder nicht, er wollte den Leuten einen Schrecken einjagen, mehr nicht. Wenn dem Spötter schließlich das Lachen verging, war der alte Spurrey längst mit einem anderen Opfer beschäftigt.
    Und genau das hatte er mit dem armen Mr Wither gemacht, mit dem Ergebnis, das der werte Leser nun vor sich hat.
    Mrs Wither gab schließlich den Schein auf und fragte: »War es Mr Spurrey, Lieber?«
    »Hat mir fürchterliche Dinge erzählt, ganz fürchterliche«, antwortete Mr Wither heiser. »Du weißt ja, dass ich seit Monaten nicht mehr in London war, aber dass es so schlimm ist, Emmie … Ich hatte ja keine Ahnung …«
    »Ich glaube nicht, dass es stimmt«, widersprach Mrs Wither fest. »Soll ich die Vorhänge zuziehen?«
    Sie fragte nicht, was für Dinge das waren; der Hospiz-Ball stand bevor, und sie wollte sich nicht die Freude darauf verderben lassen.
    »O doch, es stimmt schon«, antwortete Mr Wither bedrückt. »Was Spurrey sagt, stimmt immer. Unheimlich. Richtig unheimlich, wie er immer zu wissen scheint, was passieren wird.«
    »Na, ich würde mir weiter keine Gedanken darüber machen, wenn ich

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