Der Sommernachtsball
tu, was mir passt!«
Wenn Viola glücklich war, was seit dem Tod ihres Vaters nicht oft vorkam, dann dachte sie immer an ihre Kindheit und an die herrlichen Zeiten, die sie mit ihrem Vater in ihrer gemütlichen kleinen Dreizimmerwohnung über dem Laden verbracht hatte. Als ob ihr derzeitiger Glückszustand, so rar und fragil, sie zwingen würde, ihre Gedanken auf jene Jahre zu lenken, in denen sie immer glücklich gewesen war, selbst im Schlaf.
Ähnlich beglückt fuhr sie am nächsten Morgen mit dem Zug nach London, vorbei an frischem Grün und maiweißen Hecken. Sie saß in einer sonnigen Ecke, eine Frauenzeitschrift ungelesen auf dem Schoß, und schaute hinaus zu den vorbeifliegenden Feldern, während sich die Geschäftsleute im Abteil über die aktuellen Nachrichten unterhielten (die wie immer fürchterlich waren) sowie über Golf, den Garten und den neuesten Krimi, den sie gerade lasen.
Sie befand sich in einem träumerischen Zustand, blickte hinaus, ohne die Felder voller gelber Butterblumen zu sehen oder das jähe Aufblitzen silberweißer Margeriten auf einer Gleisböschung unweit eines Tunnels. Sie musste, ohne einen bestimmten Grund, an die abgegriffene Shakespeare-Schwarte ihres Vaters denken, bei der bereits der Einbanddeckel fehlte, die dicke Schwarte mit sämtlichen Werken, aus denen ihr Vater ihr so gerne vorlas, als sie noch klein war. Wenn er nach dem Mittagessen wieder nach unten in den Laden eilte, stibitzte sie sich gerne dieses Buch und schaute sich die Bilder darin an, während Catty den Tisch abräumte, in der Backe noch ein übergebliebenes Radieschen oder eine Brotkruste.
In dem Buch gab es Illustrationen berühmter Künstler von den Schlüsselszenen der Stücke. Da war zum Beispiel ein schlanker Hamlet, ganz in Schwarz, mit hellen, schulterlangen Locken. Er hatte komische, knittrige Strümpfe an, die Viola ungeheuer faszinierten, wurden die ihren doch immer rigoros von Catty hochgezogen. Er stand, einen Totenkopf in der Hand, unter einer Zeder, während im Hintergrund eine Gruppe von Freunden tuschelte und traurig zu ihm hinsah. Dann war da eine rassige Kleopatra, mit nacktem Oberkörper und einem exotischen Federputz, die sich eine kleine Schlange an den Busen hielt. Hinter ihr stand ein Mohr und fächelte ihr mit einem Palmwedel Luft zu. Und schließlich kam das Bild, das Viola als das ihre betrachtete, war sie doch laut ihrem Vater nach der Heldin der Geschichte, Viola, benannt.
Unter dem Bild stand eine Gedichtzeile (sie konnte sie jetzt noch auswendig und sagte sie leise vor sich hin, während sie im Zugabteil saß), sie lautete:
Sie sagte ihre Liebe nie
Und ließ Verheimlichung, wie in
der Knospe
Den Wurm, an ihrer Purpurwange
nagen.
Viola hatte den Sinn der Zeilen nie verstanden, und später, in der Schule, machten sich die anderen über den Wurm und die Purpurwange lustig, und dann musste man natürlich lachen.
Aber ihr hatte sowieso immer das Bild besser gefallen als die Zeilen, und auch das sah sie nun deutlich vor Augen: ein schöner junger Mann mit einem langen, trübe herunterhängenden Schnurrbart und einem Hut mit Feder saß in einem hochlehnigen, reich mit Schnitzereien verzierten Stuhl, ein großer Hund hatte seinen Schädel auf seine Knie gelegt und schaute mitfühlend zu ihm auf. Der Mann wirkte sehr traurig. Vor ihm stand, mit erhobenem Arm, als würde sie die Zeilen unter dem Bild sprechen, das Mädchen, Viola, nach dem Violas Vater seine Tochter benannt hatte. Sie war groß und schlank, gekleidet wie ein Page, in langen Strümpfen und kurzen, ballonartigen Hosen, die ein ganzes Stück über den Knien aufhörten; dazu trug sie ein eng anliegendes Wams mit großen Knöpfen und ein kesses Käppchen. Was Viola jedoch am besten gefiel, das war ihr Haar: kurz wie das eines Jungen, mit wunderhübschen Locken, die sich um den ganzen Oberkopf ringelten. Viola wurde nie müde, diese knabenhaft-weibliche Erscheinung anzusehen, diese galanten Locken. Sie waren für sie der Inbegriff von Romantik, von Abenteuer, die ideale Alternative zu ihren eigenen üppigen, ungebärdigen Locken, mit denen man nichts anfangen konnte.
Komisch, dass mir das alles ausgerechnet jetzt einfällt, dachte sie und schob ungeduldig eine lästige Locke aus dem Gesicht. Das muss fünfzehn Jahre her sein. In diesem Moment fuhr der Zug langsam im Bahnhof Liverpool Street ein.
Und weil sie sich daran erinnert hatte, veränderte sich ihr ganzes Leben.
Victor Spring, der an diesem Abend von seinem
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