Der Sommernachtsball
aus wie die Unschuld in Person, und sie redete wie ein Schulmädel. Aber Witwen sind nicht unschuldig. Eine Witwe mochte noch so jung und naiv wirken, Tatsache war, dass sie keine … na, jedenfalls, dieses Mädel hatte mehr Erfahrung als die gute alte Phyl.
Und sie war Verkäuferin gewesen, hatte Wither wegen seines Geldes geheiratet und wusste sich zu kleiden.
Victor gab es auf, Konversation zu machen. Gemütlich ins rote Sofa gekuschelt, beugte er den Kopf ein wenig weiter zur Seite und sagte leise:
»Gefällt mir, Ihre Frisur. Neu, oder?«
Sie antwortete nicht, doch ihre Hände zuckten nervös. Den Blick auf die Sandalenspitzen geheftet breitete sich ganz langsam ein scheues, stolzes kleines Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Das war so bezaubernd, dass Victor zu seiner Überraschung eine heftige Lust in sich aufkeimen spürte. Er rückte ein wenig näher und murmelte:
»Darf ich um den nächsten Tanz bitten?«
»Aber ist das nicht der Dinner-Tanz?« Schmale graue Augen starrten ihn gleichzeitig furchtsam und hoffnungsvoll an.
»Ach, ja …?«, murmelte er verdattert. Den musste er mit Phyl tanzen.
Sie nickte ernst. Der Dinner-Tanz war – wie jeder wusste – der wichtigste Tanz des Abends, denn der Tänzer durfte seine Partnerin zu Tisch führen, und man hatte ihn dann das ganze Essen über für sich.
»Oh, na ja … ich fürchte, der ist schon besetzt. Aber wie wär’s – Moment, zeigen Sie mir mal Ihre Karte.«
Sie reichte sie ihm widerstandslos. Die zweite Hälfte war beinahe leer.
»Wie wär’s mit Nummer siebzehn? Das ist der Tanz gleich nach dem Dinner. Ein Walzer.«
(Ein Walzer!)
»O ja, danke.«
»Ich habe zu danken.« Er kritzelte V.S. neben die Nummer, ohne zu ahnen, dass die kleine Tanzkarte mit dem Goldrand Mrs Wither später ins Bett begleiten würde.
»Aber jetzt muss ich leider wieder gehen.« Er drückte eine atemberaubende Sekunde lang ihre Hand, lächelte ihr zu und erhob sich, um sich nach seiner Cousine umzublicken.
»Ihr Haus ist sicher sehr ruhig, so abseits von den größeren Straßen«, bemerkte Hetty gerade. Sie und Mr Wither diskutierten das Für und Wider des Land- und Stadtlebens. Hetty hoffte, Mr Wither zu einer Gosse-Barrett-Bemerkung im Stil von »je ruhiger desto besser, da kann ich meine Töchter besser verprügeln« zu bewegen. Aber Mr Wither wurde (wie so viele Personen, die von Romantikern für romantisch gehalten wurden) Hettys Erwartungen nicht gerecht.
»Ja, ziemlich«, dröhnte er.
»Aber ich vermute«, beharrte Hetty, die nichts Derartiges vermutete, »dass Sie oft Freunde zu sich einladen. Wir tun das. Es bringt frischen Wind und Abwechslung ins Haus.«
»Ja«, antwortete Mr Wither, »das heißt, nein. Wir empfangen selten Besuch. Das bringt bloß Unruhe.« Mr Wither stieß ein unangenehmes Lachen aus. »Nicht so wie ihr jungen Leute, immer frischen Wind und Abwechslung, immer was Neues.«
»O nein … ich selbst bevorzuge ein ruhiges Leben«, widersprach Hetty. »Ich liebe Bücher. Lesen Sie viel, Mr Wither?« Es interessierte sie immer, was andere Menschen lasen, in der irrigen Annahme, dass ihr das etwas über ihren Charakter verriet.
Mr Wither überlegte ein Weilchen. »Nein«, sagte er dann.
»Ach … aber was lesen Sie denn, wenn Sie mal was lesen?«
»Krimis«, antwortete Mr Wither. »Ich lese da gerade eine sehr gute Geschichte, von diesem – komme im Moment nicht auf seinen Namen. Schreibt immer über diesen Inspektor, der ein Krüppel ist und sich von einem Neger-Boxer im Rollstuhl herumschieben lässt. Eine gute Lektüre, nichts Schweres. Man will schließlich nichts Schweres lesen, wenn man sich nach dem Abendessen zurückzieht.«
»Nein«, antwortete Hetty träumerisch. Nichts Schweres. Keinen Shelley, mit Flügeln und schimmerndem Nebel; keinen Shakespeare, moosige griechische Säulen in einem englischen Wald; keinen Keats, ein Strauß Pfingstrosen am Mittsommerabend …
»Het, wir müssen zurück«, sagte Victor. »Freut mich, Sie zu sehen«, meinte er zu Mr Wither.
Mr Wither nickte beinahe freundlich. Der junge Spring war ein hübsches Sümmchen wert. Mr Wither hoffte, dass Viola ihn nicht mit albernem Geschwätz gelangweilt hatte. Zufrieden schaute er den beiden Entschwindenden nach, dem jungen Spring mit seiner Cousine. Mr Wither war nicht neidisch auf jene, die mehr Geld hatten als er; es gefiel ihm, wenn die Leute viel Geld hatten, das gab ihm ein warmes respektables Gefühl von Sicherheit und Gediegenheit. Wo Geld
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