Der Sommernachtsball
schmalen Kopf
und ließ die noch lebendige Beute
unter seinen Krallen zurück,
um der anderen, die davonsprang, zu folgen.«
»Mach schon.«
Beide tauchten rasch in die Menge ein, die sich hinter ihnen schloss und vor Miss Barlows Blicken verbarg. Sie hatte natürlich gesehen, wohin sie gingen, machte sich aber weiter keine Sorgen. Victor konnte sich ruhig nach einem hübschen Mädchen den Kopf verdrehen, ohne dass sie deswegen gleich eifersüchtig wurde. Sie hielt ihre Stellung für so sicher, dass sie Victor ruhig ein wenig Auslauf gönnen konnte.
Trotzdem: Wenn Victor sich nach einem Mädel den Hals verrenkte, dann wollte sie schon wissen, nach wem. Und sie musste zugeben, dass diese Viola ein echter Hingucker war. Ein sehr gutes Kleid, was sie da anhatte, und auch die Frisur war nicht übel. Sie hatte Stil und dazu jenen sanften, kindlichen Charme, den vor allem erfolgreiche Männer bezaubernd finden. Der ist rasch verflogen, dachte Miss Barlow kalt. Grimmig starrte sie Victor und Hetty hinterher.
»Nein«, meinte Hetty kopfschüttelnd, als sie sich dem Mädchen auf dem Sofa näherten. Über die Schulter gewandt sagte sie zu ihrem Cousin, »ich fürchte, ich muss den Fünfte-Klasse-Schwindel anwenden.«
»Na, sie scheint dich aber zu kennen; sie lächelte dir zu«, murmelte er. Und was für ein zauberhaftes Lächeln.
»Ach ja?« Hetty schaute genauer hin, dann stieß sie hervor: »Ach, natürlich.«
Mit ausgestreckter Hand ging sie auf Viola zu. »Mrs Wither, wie schön, Sie zu sehen. Meinen Cousin kennen Sie bereits?« Sie trat ein wenig beiseite, damit Victor vortreten konnte. »Victor, du erinnerst dich doch noch an Mrs Wither? Wir haben sie vor ein paar Wochen im Auto mitgenommen, bei diesem Gewitter, weißt du noch? Wir haben Sie zuerst gar nicht erkannt.« Sie schaute lächelnd auf Violas neue Frisur.
»Ja, natürlich«, antwortete Victor geschmeidig. Ein wenig enttäuscht schaute er Viola in die Augen. Keine schöne Unbekannte also, sondern ein Mädchen, das er schon kannte und die nun lediglich in einem neuen Kleid und mit neuer Frisur vor ihm stand. »Ich erinnere mich, wusste aber nicht gleich, von woher.«
Viola sagte nichts. Sie war vollkommen überwältigt. Mit einem Lächeln gab sie ihm die Hand, dann starrte sie stumm auf ihre Sandalen. Sie hätte nichts Klügeres tun können; seine Enttäuschung schmolz unter dem Zauber ihrer Schüchternheit dahin, und er schaute sie mit neuem Interesse an.
Hetty unterhielt sich derweil mit Tina. Sie ließ sich Mr Wither vorstellen (für sie der weitaus interessanteste Ballbesucher, eine verlockend neurotische Mischung aus dem verblichenen Mr Barrett, ehemals wohnhaft Wimpole Street, und dem alten Gosse, dem Vater von Edmund), dann seiner Frau und Madge, von der sie gefragt wurde, ob sie Hunde möge.
»Gehen Sie oft tanzen?«, erkundigte sich Victor, der sich lässig neben Viola aufs Sofa hatte fallen lassen. Er gab sich keine Mühe, mit ihr zu reden wie mit einer Erwachsenen. Sie war ja nur eine kleine Verkäuferin und außerdem noch mit einem Knaben wie Wither verheiratet gewesen. Auch schien sie kaum ein Wort herauszubringen, so überwältigt war sie von seinem Glanz und seiner Herrlichkeit. Aber auch wenn sie ihm vorkam wie eine Fünfzehnjährige: Dieses kleine Gesichtchen auf diesem langen, schlanken Körper, das hatte was. Bewundernd blickte er auf ihre schneeweißen, babyzarten Arme. Es gefiel ihm, dass sie von seinem Glanz und von seiner Herrlichkeit ganz überwältigt war; es amüsierte ihn, schmeichelte ihm aber auch. Frauen, die sich von maskuliner Herrlichkeit überwältigen ließen, fand man heutzutage nicht mehr allzu oft auf Tanzvergnügungen. Dies alles war ihm nicht wirklich bewusst; er wusste nur, wie sehr es ihm gefiel, neben ihr zu sitzen und sie zum Erröten zu bringen.
»Nicht oft, nein, aber ich bin absolut verrückt danach.« Sie errötete, denn nun fürchtete sie, er könnte sich verpflichtet fühlen, mit ihr zu tanzen.
»Dann gefällt es Ihnen heute Abend sicher gut«, meinte er nachsichtig.
»O ja, sehr gut sogar. Ich hab mich schon seit Ewigkeiten drauf gefreut. Das heißt … ich wusste nicht, ob ich mitkommen würde, das habe ich erst vor ein paar Tagen erfahren, als ich die Eintrittskarte von Mr Wither bekommen habe (das ist mein Schwiegervater, er sitzt dort und unterhält sich mit Miss … mit Ihrer Cousine). Seitdem hab ich mich drauf gefreut.«
Ja … natürlich, sie war Witwe. Das hatte er ganz vergessen. Sie sah
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