Der Sommersohn: Roman
aus dem Kofferraum zog. Sein schütteres graues Haar bestand nur noch aus wenigen Büscheln, und er hinkte stark, seit er sich vor langer Zeit die Hüfte gebrochen hatte. Mit seinem Gesicht, ledergegerbt von den wechselnden Jahreszeiten auf dem Bohrturm, wirkte Dad älter als seine einundsiebzig Jahre.
»Was machst du denn hier, Sportsfreund?«
»Hab mir gedacht, ich komm mal vorbei und sehe, wie es dir geht.«
Er musterte mich. »Warum?«
»Brauche ich einen Grund?«
Er stieg wieder die Stufen zur Haustür hinauf, und ich folgte ihm. »Du brauchst keinen Grund.« Bevor er die Tür öffnete, hielt er kurz inne und sagte: »Vielleicht fühl ich mich aber besser, wenn du mir einen nennen würdest.«
»Dann wirst du eben mit der Wahrheit leben müssen. Du bist mein Dad und ich wollte dich sehen.«
Damit handelte ich mir ein Jim-Quillen-Schnauben ein – eine halb zweifelnde, halb geringschätzige Bestätigung, dass er mich zwar gehört hatte, mir aber nicht wirklich glaubte. Er öffnete die Tür und winkte mich durch.
Meine verzweifelte, unrealistische Hoffnung, dass dies eine leichte Aufgabe sein könnte, war mit einem Schlag zunichtegemacht, als ich Dads Zuhause von innen sah und roch. Es hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem, was ich vor Monaten gesehen hatte. Ein Ambiente voller Gingankaros, Dekokissen im Countrystyle, war verstreuten Zeitungen und Kleiderhaufen gewichen. Anscheinend warf er die Wäsche einfach wahllos auf den Boden. Überall lagen Dutzende von verschmierten Papptellern herum. Es roch nach Abfall.
»Verdammte Scheiße.«
»Ich hätte aufgeräumt, wenn ich gewusst hätte, dass du kommst«, sagte Dad. Er hätte einen Monat Vorwarnung gebraucht.
»Wo übernachtest du denn?«, fragte Dad.
»Hier, hatte ich gehofft. Wäre das in Ordnung?«
Dad sagte weder Ja noch Nein, jedenfalls nicht direkt. Er zeigte nur in Richtung Flur. Ich folgte ihr, während er anfing, die Zeitungen aufzusammeln.
BILLINGS | SEPTEMBER 17, 2007
Die Nachricht von Dads dritter Eheschließung erreichte mich auf ziemlich ähnliche Art wie die von seiner zweiten. Er rief mich an und sagte: »Du hast eine neue Mutter.« An diesem Punkt endeten die Ähnlichkeiten. Der erste Anruf erreichte 1976 einen achtjährigen Jungen, der von der Vorstellung eines neuen Familienmitglieds begeistert war. Der zweite, zwanzig Jahre später, erreichte einen achtundzwanzigjährigen Mann, der den Vater barsch zurechtwies: »Ich habe eine Mutter«, und der widerwillig an der Strippe blieb, um Mrs Quillen Nummer drei förmlich zu begrüßen. Helen hatte so etwas gesagt wie: »Ich freue mich schrecklich, einen so begabten Sohn zu bekommen.« Ich hatte zurückgeschossen: »Du bist die Frau meines Vaters. Belassen wir’s dabei.«
In den folgenden Jahren sollte Helen mich überraschen. Falls meine Kälte sie verletzt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie behandelte mich einfach gleichbleibend freundlich, wenn ich Dad anrief oder er mich. Sie lief dann zum Nebenapparat und überbrückte die ausgedehnten Gesprächspausen. Einmal rief sie mich aus heiterem Himmel an und fragte, warum ich Dad denn nie besuchen würde. Ich riet ihr, ihn doch selbst mal zu fragen. Falls sie das jemals getan hat, hörte ich davon nichts.
Als Mom starb, kam eines der einfühlsamsten und überraschendsten Beileidsschreiben von Helen.
Es gibt nichts, was ich sagen oder versuchen könnte zu sagen, das den Schmerz über den Verlust Deiner Mutter auslöschen könnte. Meine eigenen Eltern leben schon seit über dreißig Jahren nicht mehr, und kein Tag vergeht, an dem ich nicht an sie denke.
Aber vergiss nicht: Du bist ihr Vermächtnis, ihr größtes Werk.
Und Du bist ihr wohlgeraten. Du bist ein guter, ehrlicher und offener Mann, und Du führst das Leben, für das sie Dir die Grundlage geschaffen hat. Jeder Tag, an dem Du aufwachst, ist ein weiterer Tag, an dem Leilas Vermächtnis fortlebt.
Ich bin stolz, Dich zu kennen, stolz, mit Dir verwandt zu sein. Und ich danke Gott jeden Tag, dass Du bist, wer du bist. Also könnte man sagen, ich danke Gott auch dafür, dass sie war, wer sie war.
Ein paar Jahre danach, als Helen ihren Kampf gegen den Krebs aufnahm – eine erbitterte Schlacht, die sie und Dad stoisch ertrugen –, holte ich dieses Schreiben von Zeit zu Zeit hervor und las es wieder, wenn ich für ihre Genesung betete, und dann, gegen Ende, darum, dass sie still und ohne Schmerzen gehen dürfe. Als ich jetzt sah, was in ihrer kurzen Abwesenheit aus ihrem
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