Der Sommersohn: Roman
frühe Zeit mit Dad in Montana zurückreichten. In ihnen zu blättern, war wie vergangene Jahre zum Leben zu erwecken, wenn auch nur für einen Moment. Mit den Seiten zog auch der Reigen unserer Familie vorüber. Zuerst waren es nur Mom und Dad, mit jugendlich frischen Gesichtern, all die Möglichkeiten und Verheißungen der Jugend lagen noch vor ihnen. Später kam Baby Jerry. Ich sah Bilder von Reisen, von denen ich erzählt bekommen hatte – Mom, Dad und Jerry, vielleicht vier Jahre alt, am Grand Canyon. Dann tauchte ich auf, wippte auf dem Bein meines Großvaters, ritt in den Armen meines Vaters. Weitere Seiten glitten vorüber. Dad verschwand, und die Landschaft veränderte sich. Auf dem Pioneer Square Jerry als junger Teenie, der stirnrunzelnd in die Kamera blickte, während Mom und ich lächelten. Jerrys Abschlussfeier von der Highschool. Jerry, mit markantem Kinn, in seiner Marineuniform. Dann waren es nur noch Mom und ich. Ich wurde groß. Sie sammelte Zeitungsartikel über meine Footballspiele an der Olympia High School. Die Ehrenliste. Meine Partnerin vom Abschlussball. Und dann, als ich mit der Highschool fertig und auf dem Weg nach Berkeley war, endeten die Fotos.
Ich fand etwas, was meine Wut auf Marie wieder auflodern ließ. Geschrieben in jenem Sommer in Milford, fragte der Brief von meiner Mutter bei Dad an, ob er über eine Privatschule für mich nachgedacht habe. Ganz oben hatte Marie quer über das Blatt gekritzelt: »Lass Jim in Ruhe. Mitch will da nicht hin.«
Ich weinte mich in den Schlaf.
Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Mom von mir gegangen war, und ich fragte mich, wann er für Dad kommen würde. Im Dunkeln flüsterte ich ein Gebet und bat Gott, hier bei Dad sein zu können, wenn seine Zeit gekommen wäre. Obwohl ich mich an jede Kränkung gut erinnern konnte, dachte ich auch daran, dass er, als es nur noch ihn und mich gab, gekommen war.
Am Tag, als wir Mom beerdigten, verließ ich ihr Haus und bahnte mich durch den frühmorgendlichen Verkehr in Olympiazur Leichenhalle. Ich klopfte kurz an die Tür und erklärte dem Mann, dass ich ein paar Minuten haben wollte. Er brachte mich zu ihr und ging diskret hinaus.
Ich ging Gedanken abladen, an die ich mich nicht zu sehr in der morgendlichen Trauerfeier klammern wollte, um Worte zu sagen, die niemand sonst hören sollte. Ob Mom an dem Morgen bei mir im Raum war, entzieht sich meiner Kenntnis; ich weiß nicht, ob sie es war oder nur ihre sterbliche Hülle, jetzt ohne das, was immer in ihr gewesen war, was sie lebhaft und lustig und gütig gemacht hatte, immer im Licht und nie im Schatten. Im Lauf der Jahre wurde die Frage nicht geklärt. Ich weiß es schlicht nicht, und ich traue denen nicht, die behaupten, die Antworten zu haben.
Das Gesicht, in das ich blickte, sah wie Mom aus, und das genügte mir. Ich streichelte ihr Haar, und ich begann mit einem Danke.
Nach dem Gottesdienst blieben Cindy und ich am Grab. Mom würde neben Jerry ruhen. Mir war das ziemlich gleichgültig – ich würde auf dieser Seite vom Staub sein und beide würden mir fehlen –, aber ich hoffte, für sie beide wäre es wichtig, wo immer sie jetzt sein mochten. Wenn sie irgendwo waren.
Ich nahm Cindys Hand und wir gingen zum Wagen. Etwa auf halbem Weg trat Dad hinter einer mächtigen Fichte hervor. Er trug einen blauen Anzug, der seine beste Zeit vor zwanzig Jahren gesehen hatte, und sein schütteres ergrautes Haar war glatt nach hinten gekämmt. Seine Krawatte, zu einem lässigen Windsorknoten geschlungen, hing schief. Er wirkte ängstlich und nervös.
Ich hatte ihn zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Cindy lächelte und dankte ihm, dass er gekommen war, und da wusste ich, dass sie ihn angerufen hatte. Mir kam so vieles in den Sinn, das ich hätte sagen können, aber ich verwarf es auf der Stelle.
Er war an meine Seite gekommen.
Zu dritt gingen wir weg.
MILFORD | 7. – 10. JULI 1979
An der Tankstelle in Bozeman wartete Brad auf uns.
»Hols der Teufel!«, rief Dad aus. Die letzten paar Stunden hatte er Zweifel daran geäußert, ob »dieser Hippie« aufkreuzen würde. Dass er es wirklich tat, war unsere erste Überraschung.
Die zweite kam am nächsten Tag, als die Arbeit anfing. Dad ließ Brad auf Platz Nummer zwei anfangen, den bis dahin Toby und ich besetzt hatten. Er lernte schnell, und am Ende des zweiten Tages tat er genau das, was nötig war, ohne Anweisung von Dad. Das brachte eine Beförderung, und Toby landete auf seinem alten Posten,
Weitere Kostenlose Bücher