Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
aber an dieser Grenze waren die Ungarn zu stoppen und Ulbricht, da war ich sicher. Denn auf unserer Seite waren die Amerikaner, die in jedem Frühjahr und Herbst in den Wäldern ringsum ihre Manöver wie große Geländespiele feierten und mit Jeeps und Panzern zwischen den Bäumen kampierten, wir pilgerten zu ihnen auf den Hutzberg, an dem ich nun saß, und standen andächtig vor ihren Funkgeräten und Panzerketten, und sie freuten sich, wenn wir sie bewunderten mit ihren Dosensuppen, Schokoladen und Zigaretten. Die Soldaten fuhren mit unsern Fahrrädern durch den Wald, ehe sie zur Belohnung Kaugummis ausgaben und Fotos nackter Frauen zeigten. Es war Frieden, auf die Amis war Verlass, jeden Tag morgens und mittags fuhr ich mit dem Bus an dem Tanklager der Armee in Bad Hersfeld vorbei, wo die Posten ihre Maschinenpistolen locker nach unten hielten.
Die Ungarn, die Russen, die Ostdeutschen waren gestoppt, ich hatte keine Angst vor ihnen. Es war Frieden, der Krieg noch nah, aber längst vergangen, lebendig in allen Köpfen als das größte Erlebnis,
In einem Polenstädtchen, da wohnte einst ein Mädchen,
und die Einbeinigen und Einarmigen und die fehlenden Väter bewiesen, dass es diesen Krieg wirklich gegeben hatte. Die letzten deutschen Soldaten, endlich aus der Gefangenschaft entlassen, wurden mit Fackeln vom Ortseingang bis zur Haustür begleitet und vom Männergesangverein mit
Nun danket alle Gott
und
Nach der Heimat möcht ich wieder
begrüßt. Geschichten von den ersten Tagen der Besatzung durch die Amerikaner, von ausgeräumten Wurstkammern, Lieferpflicht für Kartoffeln und Fingerabdrücken auf Registrierkarten versanken ins Vergessen. Es war Frieden, auch wenn die eine Partei in Bonn etwas anderes wollte als die andere Partei in Hessen, am längsten hielt sich das Adenauerplakat von der letzten Wahl am Backhaus. Die Leute gingen ihrer Arbeit nach, wenn kein Sonntag dazwischenkam, der Bauer wurde gebraucht, die Fabriken zahlten immer besser, einige arbeiteten bei Zuse in Neukirchen und Hersfeld an rätselhaften, riesigen Rechenmaschinen.
Das Leben geht weiter,
nur im Osten nicht, in der Ostzone lief gar nichts, deshalb war sie keine Gefahr, aber sie lag so nah, dass immer ein schwaches Echo der politischen Ereignisse übers Tal klang.
Ich schaute nach Osten, sah mein Dorf als kampflosen Ort, eingepasst in die Felder und Wälder in der Mitte der Welt. Nur in den Schießscharten des Turms steckten die Fragen, warum hier einmal geschossen wurde. Wehrda hatte sich immer gut verteidigt, das wusste ich, der Dorfname wurde von der Wehrkirche abgeleitet, vom Kirchturm mit seinen dicken Mauern. Ja, vor zweihundert Jahren oder noch früher war das Dorf umkämpft gewesen zwischen dem Bischof von Fulda und den evangelischen Hessen, eine Grenze ging mitten durch Wehrda, durch unsern Garten, direkt neben der Kirche, kleine Kriege und jahrzehntelange Kämpfe wurden um diesen Flecken geführt. Aber warum die hohe Mauer ums Schloss, da wusste einer zu erzählen, was ihm sein Opa erzählt hatte, dass die Herren des Dorfes früher den Bauern alles weggenommen und noch um die Jahrhundertwende die Bräute vor der Hochzeit ins Schloss bestellt hatten, früher, und die Schulkinder, die für sie arbeiten mussten, mit Schnaps bezahlt, früher. Alle Kämpfe waren vorbei, aber der Streit lebte unter den Harmonien fort.
Ich horchte von oben, von weitem in die Häuser hinein, kannte die meisten von innen, ich wusste, man hatte gegessen, abgewaschen, aufgeräumt und hockte in der Stummheit des frühen Nachmittages hinter den Fachwerkwänden. In vielen guten Stuben nistete etwas Dunkles und Dumpfes, das mit dem harten Leben zwischen Stall und Feld, Misthaufen und Schweinen, Heumahd und Anhängerkupplung wenig zu tun hatte, in den kalten, ungelüfteten Stuben steckten verdrückte Geschichten, immer stand da ein gefallener Sohn oder Vater oder Bruder in einer peinlich gewordenen Uniform gerahmt auf einem Häkeldeckchen und schaute den Hinterbliebenen, den Besuchern vorwurfsvoll auf den Streuselkuchen.
Jedes Haus, so schien mir, hatte ein Geheimnis, etwas, worüber nicht gesprochen wurde, nicht allein undurchsichtige Feindschaften um Ackerwege oder Schulden, nicht allein die Gerüchte, wer ein Säufer war, wer mit wem verzankt, wer einen Flüchtling als Schwiegersohn abgelehnt, wer es mit andern Frauen hatte. Da war eine abgestandene Wut, da waren dunklere Geschichten, die nicht in meine Kinderwelt passten, irgendwo war da ein Abgrund, aus
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