Der Spezialist: Thriller
heiseren, verzweifelten Schrei:
»Geiger!«
Doch er wusste, dass der Ruf von außerhalb des Traumes kam, und so sprang er vom Rand des Stegs und schwamm zum Boot. Die Kühle des Flusses war zugleich Stimulans und Betäubungsmittel, weckte die Lebensgeister und lähmte den Körper.
Als Geiger sich dem Boot näherte, tauchte er. Er schwamm durch die Dunkelheit – und dann fanden ihn verzweifelte Hände, krallten sich fest, ließen nicht los und zogen ihn hinunter in den um sich dreschenden Wahnsinn.
***
Harry stolperte über den Steg. Rings um das Boot wühlten unsichtbare Kräfte das Wasser auf. Rudernde Gliedmaßen brachen durch die Oberfläche und verschwanden wieder. Schließlich ließ der Tumult nach.
Das letzte Feuerwerk bemalte den Himmel mit einem majestätischen Faksimile des Sternenbanners. Als die Lichter sich allmählich verteilten und erloschen, löste die Flagge sich auf und hinterließ nur Schwärze und ein paar Sterne, die genügsam am Firmament leuchteten. Die fernen Hochrufe wichen der Stille.
Harry sah, wie das Boot den Fluss hinuntertrieb. Er suchte nach Lebenszeichen ringsum und kämpfte beharrlich gegen den Zug des Schmerzes an.
Dann sah er eine Gestalt aus dem Wasser auftauchen. Der Schwimmer hielt auf das Ufer zu, war aber sichtlich erschöpft. Mit einem Arm paddelte er im Wasser, mit dem anderen zog er irgendetwas hinter sich her.
Harry rannte vom Steg und folgte dem Ufer ein paar Schritte weit. Er spähte auf das dunkle Wasser hinaus, konnte aber nichtsagen, wen er sah. Er eilte weiter, schloss zu dem Schwimmer auf und rannte zum Fluss hinunter. Die magere Gestalt kroch die letzten Meter und brach hustend und würgend am schlammigen Ufer zusammen. Erst jetzt sah Harry, dass es sich um Ezra handelte. Neben ihm lag die Sporttasche.
Harry kniete sich neben den Jungen und legte ihm sanft eine Hand auf den Rücken. Ohne auf die Rufe und die zuckenden Strahlen der Taschenlampen hinter sich zu achten, drehte er den Jungen langsam herum.
Ezra sah zu ihm hoch und hustete Flusswasser.
»Ruhig«, sagte Harry. »Ganz ruhig.«
Er sah die Frage in Ezras Augen, ehe sie gestellt wurde.
»Geiger?«
Harry schüttelte den Kopf.
Ezra brach in Tränen aus.
***
Sie saßen vor Corleys Haus auf der obersten Stufe. Ezra war in eine Decke gehüllt, und Harrys Brust war von der Schulter bis zur Taille bandagiert. Er hatte einen Arm um den Jungen gelegt. Beide schwiegen; auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck tiefen Schmerzes.
Die Blaulichter der zwei Polizeiwagen und des Krankentransporters warfen schimmernde Muster über den Vorgarten. Bis eben noch hatten Harry und Ezra im Wohnzimmer gesessen und die erste Fragerunde über sich ergehen lassen; die Antworten, die sie gaben, dienten jedoch mehr der Verschleierung als der Aufklärung. Sie erzählten die rätselhafte Geschichte eines Überfalls durch zwei Fremde, die sie aus unerklärlichen Gründen angegriffen hätten. Jetzt sei eine Person tot, drei weitere seien im Fluss verschwunden.
In dem dramatischen Durcheinander war die Sporttasche in der Küche abgestellt worden, ohne untersucht zu werden. Harryhatte sich während einer Befragungspause entschuldigt und war zur Toilette gegangen, wo er die Tasche geleert und die Minidisks im Spülkasten versteckt hatte.
Jetzt, als sie vor dem Haus saßen, wandte Ezra sich Harry zu und berichtete, was in der schwarzen Tiefe des Flusses geschehen war. Der Junge hatte der Kraft der Hände, die an ihm zogen, nichts entgegenzusetzen gehabt. Dann aber hatte jemand ihn aus dem Gewirr befreit, hatte die Tasche an ihn gedrückt und ihn nach oben geschoben, in Richtung Luft und Leben. Doch der Preis für sein Überleben erschien Ezra viel zu hoch.
»Es tut mir leid«, sagte er und schüttelte den Kopf.
Harry wandte sich ihm zu. »Weswegen?«
»Das alles ist nur meinetwegen passiert.«
Harry zog ihn an sich. »Nein, das stimmt nicht. Es ist so, dass …« Er war um Worte verlegen, suchte nach etwas Klugem, Besänftigendem, das er dem Jungen sagen konnte, doch ihm fiel nichts ein.
Ein Wagen näherte sich durch den Wald. Ein Polizist eilte ihm entgegen und stellte sich ihm mit erhobenen Armen in den Weg. Der Wagen hielt, und eine große schlaksige Frau stieg aus. Der Polizist trat auf sie zu. Sie wechselten ein paar Worte; dann stieß die Frau den Polizisten aus dem Weg und kam näher.
»Ezra?«
Der Junge sah verwundert auf, als er die vertraute Stimme hörte. Lächelnd drückte Harry ihm noch einmal die
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