Der Spezialist: Thriller
zunehmend schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Geiger zuckte zusammen, als ihn von irgendwoher eine unbekannte Stimme ansprach: »Du kannst bis zu fünfundzwanzig Prozent deines Blutes verlieren, ehe deine Organe versagen …« Im nächsten Augenblick begriff er, dass es seine eigene Stimme war, die ihn an eine biologische Tatsache erinnerte, die er unzählige Male anderen dargelegt hatte.
Er rief Ezras Namen, während er lief, doch die Finsternis gab keine Antwort. Dann aber hörte er ein klapperndes Geräuschaus Richtung Hudson. Geiger wusste sofort, dass es kein fernes Echo des Feuerwerks war, was er da hörte, sondern Schritte auf einem Untergrund aus Holz, auf Brettern wahrscheinlich. Ein Bootssteg?
Am Himmel erblühte eine grüne Nova. In ihrem gespenstischen Licht sah Geiger direkt vor sich einen leicht abschüssigen Weg zwischen den Bäumen. Er atmete tief durch und setzte sich wieder in Bewegung.
Unvermittelt musste er an Corley denken und begriff, dass der Traum in ihm lebte. Nur war es diesmal anders: Er kannte sein Ziel noch immer nicht, aber zum ersten Mal war er sicher, dass er es erreichen konnte. Er verspürte ein mächtiges Aufwallen von Kraft, eine pure Entschlossenheit, die ihn trotz seiner Entkräftung weiter vorantrieb.
***
Ezra saß gebeugt auf dem Steg, die Arme um die Knie gelegt. Hall kniete einen Meter entfernt und band das letzte der beiden Seile los, mit denen das umgedrehte Boot an zwei Stahlklampen befestigt war. Ezra beobachtete, wie Hall die Fingernägel in den harten, versteinerten Knoten grub; dann blickte er auf die Pistole und auf die Sporttasche, die neben Hall auf den verwitterten Planken lagen. Er fragte sich, wie schwer die Waffe war. Würde er beide Hände brauchen, um sie zu halten?
»Was werden Sie mit mir machen?«, fragte Ezra. »Ich meine, wenn Sie verschwinden?«
Hall beachtete ihn nicht. Als er den Knoten endlich gelöst hatte, stand er auf und drehte das Boot um. Er legte die Ruder hinein, die darunter verstaut gewesen waren, band die Zweimeterleine an einer der Klampen fest und schob das Boot ins Wasser. Von der Strömung erfasst, schwang es herum, sodass der Bug auf Ezra und Hall gerichtet war.
Die Vorstellung, mit Hall den Fluss hinunterzufahren, warmehr, als der Junge ertragen konnte. Sollte er versuchen, wegzulaufen? Aber wenn er das tat, war er die Sporttasche und die Minidisks für immer los.
Hall nahm die Pistole und schob sie sich unter den Gürtel. Dann packte er die Tasche und blickte Ezra prüfend in die Augen.
»Hast du Angst?«
Ezra nickte.
»Das ist auch gut so«, sagte Hall.
***
Geiger hatte richtig vermutet: Vor ihm ragte ein Anlegesteg ins dunkle Wasser. Am Ende des Stegs waren zwei Gestalten zu erkennen: Die eine stand, die andere saß.
Geiger setzte sich langsam in Bewegung. Doch so vorsichtig er auch war – als er den Steg betrat, klapperten die morschen Planken unter seinen Füßen. Sofort drehte sich die stehende Gestalt zu ihm um, hob den Arm und richtete eine Waffe auf ihn.
»Geiger!«, rief Hall. »Stehen bleiben!«
»Lassen Sie Ezra gehen.«
»Runter vom Steg, Geiger!«
Ezra erhob sich auf ein Knie. »Tun Sie, was er sagt, Geiger. Mir passiert schon nichts!«
»Gehen Sie von dem verdammten Steg runter, Geiger, und alles ist in Ordnung!«, rief Hall. »Wenn nicht, nehme ich den Jungen mit flussabwärts!«
Geiger näherte sich weiter. Der Traum hatte immer einen Anfang und eine Mitte gehabt, aber nie ein richtiges Ende. Jetzt endlich hatte er den letzten Teil erreicht. Der Abschluss stand bevor.
»Also gut«, sagte Hall. »Wie Sie wollen.« Er stellte die Tasche ab, griff nach dem Halteseil und zog das Boot ans Ende des Stegs. »Steig ein, Junge!«, befahl er und winkte mit der Pistole.
»Tu es nicht, Ezra!« Geiger hatte den Steg zur Hälfte hinter sich gelassen. Er sah das helle Oval von Ezras Gesicht, als der Junge zu ihm schaute.
»Steig endlich ins Boot!«, brüllte Hall. »Na los!«
Ezra gehorchte. Geiger hörte die Ruder klappern. »Ich will den Jungen, Hall«, sagte er, »und die Disks.«
»Nichts zu machen, Geiger«, sagte Hall. Er ließ das Boot los; es trieb wieder an der Halteleine. Er nahm die Tasche. »Man verlangt, dass Sie alle sterben – dass alle losen Enden sauber verschnürt werden. Aber jetzt bin ich selbst ein loses Ende. Die Disks sind jetzt meine Lebensversicherung. So endet es, Geiger. Und jetzt treten Sie zurück!«
Geiger, den nur noch wenig mehr als fünf Meter vom Ende
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