Der Spezialist: Thriller
Halteseil, das schon aufs Äußerste gespannt gewesen war, über die Grenzen seiner Belastbarkeit gedehnt und zerriss.
Ezra brach in Tränen aus. Seine Schluchzer kamen in kurzen, rasselnden Ausbrüchen und ließen sich nicht mehr eindämmen.
***
Hall hatte sich zwischen den Bäumen hindurchgeschoben und den Jungen immer wieder beim Namen gerufen. Als er nun das Geräusch hörte, blieb er nicht stehen, sondern schwenkte in westliche Richtung ab. Keine Frage, das waren menschliche Laute. Und die Quelle war sehr nahe.
Hall verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich stehen. Er starrte auf eine mächtige Buche in ungefähr zehn Metern Entfernung. Ihr beeindruckender Umfang verschaffte ihr mehr Platz als ihren Nachbarn. Hall wusste nun, was er hörte. Es war der Junge. Er weinte.
Mit einer Bewegung gegen den Uhrzeigersinn näherte Hall sich dem Baum und entdeckte bald die verschwommenen Umrisse einer zusammengekauerten Gestalt, die am Stamm der Fichte saß.
Hall schlich darauf zu, indem er langsam von der Ferse zu den Zehen auftrat. Dann aber trat er auf einen Zweig. Ezra zuckte zusammen, als er das Knacken hörte. Dann sprang er auf und rannte voller Panik los, ohne einen Blick zurückzuwerfen; seine Turnschuhe suchten auf dem weichen Waldboden nach Halt. Doch Hall war schneller. Ezra kam nur fünf Schritte weit, dann packte Hall ihn bei den Fußgelenken. Der Junge stürzte nach vorn auf die Brust.
Hall hielt ihn fest und verschloss ihm mit der Hand den Mund. »Hör mir gut zu, Junge. Wenn du vernünftig bist, geschieht dir nichts. Ich nehme mir die Tasche, und du siehst mich nie wieder. Wenn ich gehe, rufst du nicht nach Geiger, verstanden? Warte ein paar Minuten. Dann stehst du auf und gehst in diese Richtung zum Haus zurück.« Mit dem Daumen zeigte er über seine Schulter nach hinten. »Hast du verstanden?«
Ezra schluckte. »Ja.«
»Gut.« Hall griff nach der Tasche, stand auf und blickte auf den Jungen. »Sag deinem Vater, dass ich mich vielleicht bei ihm melde.«
In diesem Moment drang ein Ruf durch den Wald. »Ezra!«
Hall ließ sich auf die Knie fallen und hielt dem Jungen wieder den Mund zu. Er hatte die Stimme auf Anhieb erkannt. Sie gehörte Geiger, und er war nicht weit entfernt. Der Mann gab einfach nicht auf.
»Ezra!«, rief Geiger. »Sag mir, wo du bist!«
Hall beugte sich zu dem Jungen hinunter und sprach ihm ins Ohr.
»Tut mir leid, Kumpel«, wisperte er. »Wir müssen den Plan ändern. Du kommt mit mir zum Fluss. Und vergiss nicht – ich habe eine Pistole, Geiger nicht. Ein Mucks von dir, und Geiger ist tot. Hast du kapiert?«
Er stand auf, zog Ezra hoch und packte ihn bei der Hand.
»So, und jetzt rennen wir.«
Sie eilten durch den Wald in Richtung Fluss. Zweimal fiel der Junge zurück, und Hall musste ihn wieder neben sich zerren. Dann aber sahen sie einen dunkelgrauen Schimmer hinter den Bäumen; im nächsten Augenblick gelangten sie auf offenes Gelände. Vor ihnen strömte der Hudson River vorbei. Noch immer erhellte das Feuerwerk den Himmel. Im Lichtschein entdeckte Hall den Anlegesteg, der keine fünfzig Meter entfernt ins Wasser ragte. Am Ende des Stegs sah er das Ruderboot.
Hall rannte los und zerrte den Jungen hinter sich her. Als sie den Bootssteg erreichten, dröhnten die verzogenen, losen Planken so laut wie eine Musketensalve unter ihren Füßen. Hallblieb stehen, hielt Ezra fest und blickte nach hinten zum Haus. An der Baumgrenze war keine Bewegung zu sehen.
Hall drehte sich wieder um und zog den Jungen leise über den Steg mit sich.
***
Lily saß am grasigen Flussufer ein Stück nördlich vom Steg und schaute auf die Lichter im Wasser, als sie das Geräusch hörte. Die Musik, die die Holzplanken unter den dahineilenden Füßen spielte, rief ihr ein lebhaftes Bild vor Augen: Sie sah winzige Hämmer in Kinderhänden, die auf einem Spielzeugxylofon spielten. Als sie den Kopf drehte, sah sie zwei Gestalten wie von Zauberhand getragen über den Fluss rennen. Sie lächelte.
***
Jedes Mal, wenn Geiger mit dem linken Fuß auftrat, explodierte der Schmerz in seinem geschundenen Bein. Kaum war er in den Wald vorgedrungen, hatte er gespürt, wie die Nähte nachgaben. Er hatte sein Hemd ausgezogen, einen Ärmel abgerissen und damit eine Aderpresse auf seine Schnittwunden im Oberschenkel angelegt. Jetzt waren seine Bewegungen steif und abgehackt, und bei jedem Schritt schwankte die Welt. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und es fiel ihm
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