Der Spezialist: Thriller
einem dunklen Zimmer mit einer Tür ohne Klinke, und diesmal in einer Höhle. Ihn plagte eine nahezu absurde therapeutische Notwendigkeit: Um das Kind zu befreien, musste er es zwingen, seine Qualen noch einmal zu durchleben.
Corley wusste, dass die Stunde fast vorüber war, aber er wollte jetzt nicht aufhören.
»Was mir an Ihrem Traum immer wieder auffällt, ist das Fehlen von Angst. Sie sprechen nie über die Vergangenheit, aber Sie müssen schon einmal Angst empfunden haben. In Ihrem Traum erleben Sie schreckliche Dinge, aber Sie haben niemals Angst. Haben Sie sich jemals gefragt, wieso nicht?«
»Weil es nichts mehr gibt, wovor ich Angst haben müsste.«
»Im Traum?«
»Im Traum und im wirklichen Leben.«
»Sie sagten ›nichts mehr‹. Was meinten Sie damit?«
Geigers Finger huschten über das weiche Leder.
»Wir überziehen. Stimmt’s, Martin?«
Corley machte sich eine letzte Notiz: Was wurde aus Vater?
***
Seit der Scheidung erschienen Corley die Wochenenden immer mehr wie eine Zeit in der Schwebe, als hätten schelmische Götter Sand ins Uhrwerk des Universums gestreut. Diese beiden Tage hatte er sich immer für die Ehe frei gehalten, als Freiraum, in dem Sara und er in sich gehen, miteinander reden und sich erholen konnten. Jetzt dauerte jede Stunde neunzigMinuten, und rote Ampeln brauchten ewig, bis sie auf Grün schalteten.
Corley lag auf der Patientencouch und las seine gesamten Notizen zu Geiger, die er stets in ein ledergebundenes Protokollbuch übertrug. Er knipste die Lampe ein; die Sonne war bereits untergegangen, doch er hatte kaum bemerkt, wie die Finsternis sich ins Zimmer schlich. Er verbrachte jetzt den Großteil seiner Zeit in seinem Sprechzimmer. Das Wohnzimmer und das Schlafzimmer, noch immer voller Relikte eines toten Ehebundes, betrat er nur selten. Als Sara ihm eröffnet hatte, dass sie ihn verlassen wolle, hatte sie gesagt, er könne alles behalten. Diese Worte hatten ihn besonders schlimm getroffen, denn sie hatten deutlich gemacht, dass Sara nur noch fort von ihm wollte, nichts weiter.
An jedem Wochenende verbrachte Corley ein paar Stunden mit der Lektüre seiner Notizen. In letzter Zeit vertiefte er sich besonders in seine Anmerkungen zu den Sitzungen mit Geiger. Corley verbrachte Stunden damit, die wenigen Informationen über den Mann durchzugehen, die er sich hatte zusammenreimen können. Er brütete über einem Geheimnis, dessen Bedeutung und Lösung noch nicht niedergeschrieben waren. Seine Aufzeichnungen zeigten ihm, dass er oft gegen allgemein anerkannte Weisheiten entschieden hatte, während die Therapie voranschritt – nicht aber gegen seine Instinkte. Seine unkonventionellen Entscheidungen traf Corley vor allem deshalb, weil Geiger so viel für sich behielt. Corley wusste nicht einmal, woher er stammte, wo er wohnte oder womit er sein Geld verdiente.
Draußen erhob sich ein schrilles, hässliches Geschrei. Corley stand auf und ging auf die Terrasse. Im gleichen Augenblick ging ein riesiger Starenschwarm über den Hausdächern in eine steile Kurve. Die Vögel flogen eine Kehre und tauchten ab, änderten die Formation wie die Steine in einem Kaleidoskop, perfekt abgestimmt. Sie erinnerten Corley an Geiger. Er war ein verkrüppelter Kindmann, und seine Psyche war das Ergebnisunermesslicher Grausamkeiten. Nur durch schiere Willenskraft hielt er seine Bestandteile zusammen – irgendwie. Seit Wochen schon spürte Corley ein Verschieben der emotionalen tektonischen Platten in Geiger; irgendein Ereignis stand kurz bevor. Corley bezweifelte, ob sein Patient auch nur ahnte, dass der Traum zeigte, wie die Festungsmauern in seinem Innern nachgaben. Der Dämon pochte ans Tor, und ihm konnte der Eintritt nicht verwehrt werden.
Corley beobachtete den Vogelschwarm, bis er im Laub der Bäume auf dem Gehsteig verschwand. Er war der Routine müde, des Rituals, in das die Leidenschaft unausweichlich abglitt, der Weisheit, die auf Kosten des Optimismus gewonnen wurde. Er war die Bußfertigen leid, die sich Asche aufs Haupt streuten; er hatte die Un-Geigers satt, die sich auf seine Couch legten und sich dort in der Unvollkommenheit suhlten, nach der sie süchtig waren. Und ebenso müde war Corley der Beihilfe, die er diesen Leuten leistete, der Aufmerksamkeit und Geduld, die er in Dosen à fünfzig Minuten verabreichte, damit sie ein müdes Lächeln mit ihm teilen oder ein paar Tränen vergießen konnten, ehe er sie wieder in die Welt hinausschickte.
Er kehrte ins Haus
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