Der Spezialist: Thriller
zurück, ging in die Küche und schaltete das Licht ein. Die hellblauen Fliesen über den Arbeitsflächen erinnerten ihn noch immer an Saras Augen. Zu viele seiner Gedanken wurden von Erinnerungen angeregt, und das Wissen, dass die Zukunft sich nicht wesentlich von seinem jetzigen Leben unterscheiden würde, drückte ihn nieder.
Corley goss sich einen Becher frischen Kaffee ein und setzte sich in die Frühstücksecke. Auf dem Tisch lag die New York Times . Die Schlagzeilen lasen sich wie wiederverwertete Werbeslogans: Massengrab bei Kabul entdeckt oder Tschetschenien: Selbstmordattentäter tötet 56 Menschen und Leichen in Kairoer Fabrik – Beweise für Folter . Zu dem Artikel über Ägypten gehörte das Foto eines fensterlosen Bunkers. Den Boden sprenkelten dunkle Flecken, an den Wänden klebten Punkte und bogenförmige Spritzer – die Leinwand eines irren Malers. Corley trank von seinem Kaffee und versuchte zu entscheiden, ob die Welt barbarischer geworden war oder ob in einer Welt mit Kabelfernsehen, Bloggern und »Whistleblower«-Websites, die Staatsgeheimnisse veröffentlichten, der Öffentlichkeit nur weniger verborgen blieb.
Ich könnte einfach aufhören , überlegte er. Meine Sachen packen. Er dachte an das Haus in Cold Spring. Von allen Besitztümern, die er und Sara angesammelt hatten, war es das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutete. Seit der Scheidung war er immer unregelmäßiger nach Cold Spring gefahren. Er wollte nichts davon hören, das Haus zu verkaufen, und wollte auch nicht darüber nachdenken, wie das kam. Vielleicht sollte er sich den Rest des Sommers frei nehmen, jeden Tag mit einem Kasten Guinness und einem Päckchen Camel in der Hängematte verbringen und Romane lesen, während sein Bauch aufquoll und seine Leber und seine Lunge zum Teufel gingen.
Corley schnaubte. Er würde nicht weggehen – solche Überlegungen waren Zeitverschwendung. Er würde mit Geiger in seinem Sprechzimmer sitzen, bis der Durchbruch kam, bis die Mauern von Geigers Psyche einstürzten, bis der Schrecken hervorbrach und Corley mit aller Kraft versuchen konnte, den kleinen Jungen aus dem Schmutz zu ziehen und ihn sauber zu waschen.
Ein plötzlich aufwallender wütender Chor zog Corleys Blick zum Fenster.
Es waren die Stare.
Sie flogen weg.
8
Harry blickte durch die Windschutzscheibe des Kleinbusses auf einen großen Schwarm lärmender schwarzer Vögel, die aus der Vorstadt kommend nach Süden zogen. Über dem East River legten sie sich wie ein einziger Riesenflügel in die Kurve, so schwarz, dass sie sich vom Nachthimmel abhoben; dann fächerte der Schwarm auf und verschmolz mit dem Gitteraufbau der Brooklyn Bridge.
Vor Stunden war Harry, nachdem er das Diner verlassen hatte, nach Brooklyn zurückgekehrt und hatte den Lieferwagen bei der Autovermietung abgeholt. Richard Hall würde den Jones heute Nacht bringen, doch Harry stand bei jeder Sitzung mit einem Fahrzeug bereit – davon wich Geiger nicht ab, ein weiteres Beispiel, wie er sich dagegen absicherte, dass die Mächte des Chaos der äußeren Welt seine Kreise störten. Danach hatte Harry an seiner Wohnung gehalten und Melissa ein Dutzend von Lilys Lieblings-CDs gegeben. Ein paar Stunden lang hatte er auf der Couch verbracht und seine Schwester beobachtet, die im Schneidersitz auf einem Sessel saß und einen Knopf an ihrer Bluse betastete. Er hatte mehrmals versucht, Fragen an sie zu richten: »Möchtest du etwas zu essen, Lily?«, und: »Ein schöner Tag heute, nicht wahr?«, und: »Weißt du noch, wie ich heiße, Schwesterherz?« Reagiert hatte sie aber nur einmal, auf seine letzte Frage:
»Ich erinnere mich an alle Namen«, hatte sie gesagt. »Ich kenne sie.«
Harry nahm die Brückenausfahrt und fuhr quer durch dieStadt zur Ludlow Street. Er mochte diesen Teil der Stadt und das Gefühl, das sie hier vermittelte. Hier roch es anders als in den Wohnbezirken – würziger und exotischer. Das Lied der Straße klang hier süßer, das Licht wirkte weicher. Wenn ein Auftrag erledigt war, ging Harry zu Fuß die zwei Blocks bis zum Dim-Sum-Restaurant auf der Division Street, wo man sich für zwanzig Dollar den Bauch vollschlagen konnte. Nirgendwo in der Stadt bekam man mehr für sein Geld.
In der vergangenen Woche hatte ihn eine E-Mail informiert, dass Lilys Pflegeheimplatz von nun an einhundertzehntausend Dollar im Jahr kosten würde; deshalb war der Asap heute Nacht ein Geschenk Gottes. Harry hatte mit Richard Hall einen sehr guten Preis
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