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Der Spezialist: Thriller

Der Spezialist: Thriller

Titel: Der Spezialist: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Allen Smith
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Aufzeichnungen hatte Corley es den »Endspiel-Traum« genannt. Obwohl er ihn noch nicht ganz verstand, war er sich seiner Bedeutung sicher: Als Kind hatte Geiger verzweifelt versucht, einer unerträglichen Situation zu entkommen, was einen psychischen Zerfall hervorgerufen hatte – zumindest jenes Teils in ihm, der sich an der Freiheit hatte erfreuen können.
    »Der Traum kommt jetzt öfter, nicht wahr?«, sagte Corley. »Dreimal in den letzten fünf Wochen.«
    »Viermal«, sagte Geiger.
    Corley bemerkte eine leichte, ekelerregende Bewegung in seiner Brust.
    »Viermal? Der Kombi, das Fahrrad, das Motorrad …«
    »Und das Skateboard.«
    Corley machte sich eine Notiz.
    »Ich höre den Stift, Martin. Was schreiben Sie da?«
    »Dass ich einen Ihrer Träume vergessen habe. Was empfinden Sie, wenn ich das sage?«, fragte Corley.
    »Und was bedeutet es für Sie?«, entgegnete Geiger. »Betrachte ich Sie als weniger unvollkommen als alle anderen?«
    »Nun, ich glaube, in gewissem Maße möchte der Patient sich auf den Psychiater verlassen können. Im konkreten Fall heißt das, dass ich mich daran erinnere, was in diesem Zimmer gesagt worden ist. Das hat mit Vertrauen zu tun.«
    »Vertrauen«, wiederholte Geiger. »Vertrauen Sie mir, Martin?«
    Die Frage kam im typischen Geiger-Tonfall – völlig glatt und ohne Modulation –, der den Zuhörer zwang, den Satz auseinanderzunehmen, wenn er versuchen wollte, die Haltung zu entdecken, die in ihm wohnte, oder die Absicht, die dahintersteckte. Vertrauen Sie mir, Martin? Vertrauen Sie mir, Martin? Vertrauen Sie mir, Martin? Corley legte den Notizblick auf den Teppich und ließ sich tiefer in den Sessel sinken.
    »Erzählen Sie mir von dem Traum«, sagte er.
    Geigers Finger kamen zur Ruhe. Seine Hände lagen auf seinem Bauch.
    »Ich renne durch einen dunklen Tunnel … da sind alte Holzbalken unter der Decke, wie in einer aufgegebenen Mine. Vor mir ist Licht.«
    »Sie sind zehn, elf Jahre alt?«
    »Ja. Ich höre hinter mir das Donnern eines Einsturzes. Es klingt lebendig, wie von einem wütenden Tier. Als der Eingang zusammenbricht, stürze ich ins Licht. Und ich habe irgendein Ziel, auch wenn ich nicht weiß, wohin ich renne. Dann bin ich auf einem Gehsteig – ich glaube, in New Orleans –, aber ich kann die Straße nicht überqueren, weil eine Trauerprozessionvorbeizieht. Hunderte von Menschen klatschen in die Hände und rufen ›Halleluja!‹, während eine Band Dixieland spielt. Dann kommt der Sarg, klein und schwarz, auf einem Wagen, den vier Spielzeugpferde ziehen.«
    »Sie meinen Shetlandponys?«
    »Nein, Spielzeugpferde – aus Holz mit Rädern. Wunderschön gearbeitet. Ich muss auf die andere Straßenseite und springe deshalb über den Sarg, aber dabei stoße ich ihn mit dem Fuß an, und als ich auf den Boden stürze, kippt der Sarg um, und dieser Junge rollt heraus. Er ist in meinem Alter, hat einen blauen Anzug an und blank geputzte Schuhe. Er sieht nicht aus wie ich, aber ich weiß sofort, dass ich es bin. Er wirkt so friedlich, dass ich mich neben ihn legen möchte, aber dann überkommt mich wieder das Verlangen, dorthin zu gehen, wohin ich muss, also stehe ich auf und renne weiter.«
    Corley nahm den Notizblock auf und schrieb: Trauer um wen   – oder was?
    »Bald komme ich an einen Fluss. An einem Kai liegt ein Motorboot. Ich will den Motor anlassen und ziehe an der Schnur. Ich ziehe und ziehe, und der Motor wimmert, springt aber nicht an. Wie immer ist mein Overall voller Werkzeuge, und ich nehme einen Schraubenschlüssel heraus, um die Motorverkleidung zu öffnen. Ich will die Schrauben drehen, aber der Schlüssel fasst nicht, und meine Finger fallen ab, einer nach dem anderen, dann meine Füße und Beine. Schließlich lockert sich mein Kopf … und dann wache ich auf.«
    Corley schrieb wieder etwas auf seinen Block.
    »Sie sagten, der Einsturz hätte sich angehört wie ein wütendes Tier. Worüber war dieses Tier wütend?«
    »Wahrscheinlich war es wütend, weil es beim Einsturz verschüttet wird.«
    »Könnte es noch einen anderen Grund für seine Wut geben?«
    »Zum Beispiel?«
    »Vielleicht ist es wütend auf Sie .«
    »Wieso?«
    »Weil Sie aus der Höhle entkommen.«
    »Vielleicht fliehe ich gar nicht aus der Höhle, sondern vor dem Tier.«
    In Corley stieg eine mittlerweile vertraute Hitze auf, das Verlangen, zu beschwichtigen und zu trösten, den kleinen Jungen zu schützen, der stets irgendwo in der Falle saß – in einem brennenden Haus, in

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