Der Spezialist: Thriller
bringt mich um, wenn ich dich nicht anrufe. Ich sagte trotzdem nein.« Als Harry seinen Bericht beendete, atmete er tief durch. »Himmel, Mann – ich hätte heute Morgen beinahe jemanden umgebracht!«
»Wie hat Hall dich gefunden?«
»Weiß ich nicht. Aber er sagte etwas, das darauf hindeutet, dass er Handys anpeilen kann. Deshalb hatte ich ja zu dir gesagt, du sollst mich nicht auf dem Handy anrufen.«
»War ein dritter Mann dabei? Der Junge glaubt, dass drei Männer zu ihm in die Wohnung gekommen sind.«
»Bei mir waren es nur zwei.«
Am Rande seiner Wahrnehmung bemerkte Geiger, wie eine Violine plötzlich mit misstönender Melodie in Weberns Streichquartett einfiel und die anderen Musiker übertönte. Geiger brauchte einen Augenblick, ehe er die Melodie als eine populäre Phrase aus Mozarts Kleiner Nachtmusik erkannte. Er eilte zurück ins Haus und entdeckte Ezras Handy auf der Küchentheke. Der Junge streckte gerade die Hand danach aus. Der Mozart-Klingelton setzte wieder ein.
»Geh nicht ran!«, brüllte Geiger.
Der Junge zuckte zusammen und fuhr zu Geiger herum.
»Tun Sie mir nichts! Bitte!« Er krümmte sich zusammen und drängte sich gegen die Theke. »Bitte, tun Sie mir nichts!«
Geiger riss Ezra das Mobiltelefon aus der Hand und drückte mit dem Daumen den »Auflegen«-Knopf, doch der Klingelton setzte wieder ein. Geiger schleuderte das Handy gegen die Wand. Es zerbarst.
Geiger blickte den Jungen an. »Ich wollte dir nichts tun …«
Die Augen des Jungen glänzten. Er nickte. Dann aber brach ein Schluchzen aus ihm hervor, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er rannte aus der Küche und warf mit einem Knall die Badezimmertür hinter sich zu.
»Geiger?«
Es war Harrys Stimme. Geiger musterte das Handy in seiner Hand.
»Geiger? Was ist da los, zum Teufel?«
»Wie ortet man ein Handy?«
»Durch Dreieckspeilung. Die Handymasten horchen immerauf dein Signal und reichen dich sozusagen aneinander weiter, je nachdem, wohin du gehst, damit du stets den besten Empfang hast.«
Geiger sah sich im Beobachtungsraum auf der Ludlow Street, wo er Ezras Handy aus Halls Jacketttasche nahm – Hall kannte also die Nummer des Jungen. Er atmete tief durch und versuchte, die Woge aus Adrenalin einzudämmen, das in seine Venen strömte. Wie aus weiter Ferne hörte er, wie die Dusche aufgedreht wurde.
»Muss man anrufen oder einen Anruf entgegennahmen, damit sie einen anpeilen können, Harry?«
»Nein. Solange ein Handy an ist, reicht es, wenn es klingelt, damit man es orten kann.«
»Wie präzise kann man geortet werden?«
»Auf drei oder vier Häuserblocks genau, vielleicht sogar noch exakter.«
»Was hat Hall gesagt? Was bringt dich auf den Gedanken, er könnte ein Handy orten?«
»Er sagte mir, ich soll dich anrufen. Ich weigerte mich und sagte ihm, dass du sowieso nicht rangehst. Hall erwiderte: ›Rufen Sie einfach an. Danach übernehmen wir.‹ Wonach hört sich das für dich an?«
»Das Handy des Jungen hat gerade geklingelt, Harry.«
»Scheiße! Was hast du jetzt vor?«
»Das weiß ich nicht, Harry.«
Die Worte schienen direkt vor Geiger in der Luft zu hängen, ihn zu verspotten – ein frisch geprägtes Motto für ein neues Zeitalter: Das weiß ich nicht.
»Ich muss ihn zu seiner Mutter schaffen«, sagte Geiger schließlich. »Sie ist in New Hampshire.«
Geiger hörte Harry leise fluchen; dann sagte er: »Bleib dran, Geiger … Lily, komm zurück. Lily! Gottverdammt … Hör mal, Geiger, ich muss aufhören. Ich ruf wieder an.«
»Harry, warte …«
Doch Geiger bekam nur einen Piepton zur Antwort. Was hätte ich eigentlich als Nächstes gesagt?, fragte er sich.
Das Streichquartett spielte noch. Er ging zur Badezimmertür und klopfte an. »Ezra?«
Die Dusche wurde abgedreht.
»Was ist?«, fragte der Junge.
»Ich durfte dich nicht abnehmen lassen.«
»Warum nicht?« Die Frage kam flehentlich.
»Wenn du das getan hättest, wüssten deine Entführer jetzt vielleicht schon, wo du bist.«
»Aber wie soll ich dann mit meiner Mom reden?«
»Wir lassen uns etwas einfallen.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt.
»Haben Sie etwas zum Anziehen? Als die mich rumgefahren haben, da hab ich … ich hab mir in die Hose gemacht«, sagte Ezra beschämt.
»Ich hole dir etwas Sauberes«, sagte Geiger. »Gib mir deine schmutzigen Sachen. Ich wasche sie in der Maschine.«
»Danke.«
Ezra streckte die schmutzige Kleidung mit der Hand durch die einen spaltbreit offen stehende Tür. Geiger
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