Der Spezialist: Thriller
langen Finger arbeiteten systematisch, banden präzise Knoten und gleich große Schleifen.
»Dad hat es gewusst, stimmt’s? Als er gegangen ist, wusste er, dass diese Typen hinter ihm her sind, oder?«
»Das kann ich nicht sagen, Ezra.«
Geiger trat zur Seite, als der Junge aufstand und aus dem Bad kam. Dann folgte er Ezra zur Couch.
»Das stinkt mir wirklich, Mann. Ich meine, ich will hier nicht sein. Ich will zu Hause bei meiner Mom sein und in meinem eigenen Bett schlafen.« Er warf einen Blick auf die Bruchstücke des Handys, die über den Fußboden verstreut lagen. »Mom wird ausflippen.«
»Wir rufen sie an. Wir finden ein Münztelefon und rufen sie auf dem Handy an.«
»Warum können Sie sie nicht jetzt von Ihrem Handy aus anrufen?«
»Ich kann nicht zulassen, dass sie meine Nummer erfährt. Niemand darf die Nummer wissen.« Geiger sah die Mutter des Jungen vor sich, wie sie irgendwo stand, zum wiederholten Mal Ezras Nummer wählte und immer unruhiger wurde.
Ezra setzte sich auf die Couch und legte den Kopf in die Hände. Weberns Musik erhob sich zu einem mächtigen, melancholischen Bogen, und Ezras Finger bewegten sich an seinen Schläfen entlang, zeichneten das Violinspiel nach, entlockten der Luft die Noten.
»Das ist toll, hier an der Stelle, wo die Melodie ansteigt«, sagte er. »Das klingt, als ob jemand weint, nicht wahr?« Er summte mit, und am Höhepunkt der Melodie überschlug sich seine Stimme. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas anderes. Er beugte sich näher zum Fußboden, als sähe er ihn zum ersten Mal, streckte die Hand vor und fuhr mit der Fingerspitze über das schmuckvolle Muster.
»Mann, der Fußboden ist echt cool. Wo haben Sie den her?«
»Ich habe ihn selbst gemacht.«
Ezra sah Geiger mit zur Seite geneigtem Kopf an, wie er vielleicht ein schwachsinniges Kind gemustert hätte. » Sie haben den Fußboden gemacht? Mit eigenen Händen?«
Geiger nickte und spürte dabei seine Nackenmuskeln. Sie waren hart und unnachgiebig.
Ezra stand auf und strich über die glänzende Fläche, nahm die verschachtelten Muster in sich auf, die Sterne, Scheiben und Halbmonde. Dann schüttelte er den Kopf, als sähe er etwas vor sich, das es gar nicht geben konnte. »Das ist unglaublich«, sagte er. »Das hat man Ihnen bestimmt schon oft gesagt, was?«
»Du bist der Erste, der es sieht.«
Der Junge hob den Kopf. »Heißt das, es war noch nie jemand hier?«
»Stimmt.«
»Wie lange wohnen Sie hier denn schon?«
»Fast sieben Jahre.«
»Sie hängen mit niemandem ab?«
»Nein. So komme ich am besten zurecht. Wenn ich allein bin.«
Zum ersten Mal lächelte Ezra aus vollem Herzen. Doch es war ein melancholisches Lächeln. Geiger fand es erschütternd, ein solches Lächeln in einem so jungen Gesicht zu sehen.
»Wissen Sie«, sagte der Junge, »ich bin auch nicht gerade Mister Cool.«
Geigers Wahrnehmung wies mit einem Mal ein ständiges Ruckeln auf – bei den Bewegungen, sowie optisch und akustisch. Es war, als lese er eine Geschichte über Ezra und sich selbst, die alle paar Sekunden ins Stocken geriet und einen Augenblick auf einem zeitlichen Scheitelpunkt balancierte, während er die Seite umblätterte, bevor es dann weiterging. Geiger spürte, wie das Phänomen auf seine Physis übergriff: Sein Atem stockte kurzzeitig, und sein Herzschlag setzte während des Stotterns aus.
Ezra betrachtete währenddessen fasziniert den Fußboden. »Das Bild verändert sich«, sagte er. »Wenn man es von einer anderen Stelle aus betrachtet, sieht es immer wieder anders aus.« Er lehnte sich an eine Wand und verschränkte die Arme. »Wissen Sie, woran mich das erinnert? An ein Kaleidoskop.«
»Das ist es auch.«
»Mein Dad fände es ganz toll. Von Kunst versteht er ’ne Menge.«
»Er kauft und verkauft Kunst?«
»Ja. Er reist in der ganzen Welt herum. Deshalb bin ich nach der Scheidung zu Mom gekommen, weil Dad so oft nicht da ist. Wahrscheinlich haben sie sich deshalb überhaupt erst getrennt.«
Sein Schulterzucken verlor sich beinahe in Geigers weitem Shirt. In der zu großen Kleidung und mit den blauen Flecken an den Armen und im ernsten Gesicht wirkte Ezra wie ein trauriger Überlebender einer Katastrophe.
Plötzlich errötete er, als bekäme er eine Farbstoffinfusion. »Warum hat er mich nicht angerufen?« Wut ließ Ezras Stimme schrill werden, als hätten unsichtbare Hände ihn bei der Kehle gepackt. »Wo ist er überhaupt?«
Die hohe Stimme des Jungen drang wie das Surren eines
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