Der Spezialist: Thriller
hatte einen neuen Zuhörer gefunden, den niemand außer ihr sehen konnte.
Harry riss die Augen auf und war innerhalb eines Sekundenbruchteils auf den Beinen. Lily kniete vor dem kleinen Jungen, der von seinen Plastik-Superhelden zu ihr hochsah.
»Hi«, sagte er.
»Wundervoll«, sagte Lily.
Sie sah ihn an wie Kopernikus, als dieser erkannt hatte, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Sonnensystems stand. Harry erreichte Lily in dem Moment, als sie den Jungen bei der Hand nehmen wollte.
Die Mutter blickte nach unten. »He!«, rief sie.
»Schon gut«, sagte Harry. »Sie will nur …«
»¡Aparta las manos! Nix anfassen!«, rief sie.
Harry nahm Lily beim Arm und zog sie zu sich. Ihre Hand hielt sie ausgestreckt, während die Rechte des Jungen ihr entglitt.
»Tut mir leid«, sagte er. »Sie ist … äh, seltsam.«
»¿Qué?«
»Excéntrico« , sagte er. »Muy excéntrico.«
Die Frau neigte den Kopf und musterte Harry. Ihre Miene entspannte sich, und ein trauriges, tröstendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
Harry führte Lily zurück zur Stuhlreihe. Als sie wieder saßen, stützte er den Kopf in die Hände, löste damit aber nur ein schmerzhaftes Pochen an der Stelle aus, an der Rays Schlag ihn getroffen hatte. Er richtete sich auf.
»Was fange ich bloß mit dir an, Schwesterherz?«
»Wundervoll«, sagte sie. Ihre glänzenden Augen starrten auf den kleinen Jungen, der seine Actionfiguren wieder in die Hände genommen hatte und den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse weiterführte.
***
Während Geiger im Hof umherging, beobachtete Ezra seine eigentümlichen, aber präzisen Bewegungen. Die meiste Arbeit schienen Hüften und Fußgelenke zu haben. Die Bewegungen wirkten fast natürlich, waren es aber nicht; Geiger litt offensichtlich unter irgendeiner Verletzung. Ezra überlegte, ob Geiger vielleicht einen schlimmen Unfall gehabt hatte – vielleicht war er in einem zerquetschten Auto eingeklemmt gewesen, oder ihm war in einem Krieg etwas zugestoßen.
»Geiger, ich hab Hunger.«
»Ich mache dir etwas zu essen.«
Geiger kam über den Hof. Zusammen gingen sie in die Küche. An zwei Wänden befanden sich Theken aus schwarzem Nussbaum. Es gab eine Spüle und einen Zweiplattenkocher; darunter befand sich ein kleiner Kühlschrank mit Mahagonifront. Auf der einen Theke standen ein hölzerner Messerblock mit zwei Klingen sowie ein Besteckkasten mit zwei Löffeln, zwei Messern und zwei Gabeln, dazu zwei große Schalen aus Edelstahl mit Obst und Gemüse. Auf der anderen Theke standen eine Kaffeemaschine und eine Kaffeemühle. An einer Wand hingen eine gusseiserne Pfanne und ein Topf aus Edelstahl. In einer Ecke stand eine Waschmaschine mit integriertem Trockner. Alles funkelte im Licht von vier Pendellampen. Der Raum war hübsch und minimalistisch; hier gab es nichts Überflüssiges.
Geiger drehte das Wasser an, legte Brokkoli und Spargel auf die Theke und nahm ein Messer aus dem Block.
»Komisch«, sagte der Junge.
»Was ist komisch?«
»Sie haben gar keine Schränke oder Schubladen.«
Geiger hatte nur ein einziges Mal Zeit mit einem Kind verbracht, an einem Nachmittag, der schon Jahre zurücklag. Er hatte Carmines monatliche Rate zum La Bella gebracht und war gebeten worden, zu bleiben und mit Carmine und seinem Neffen zu Mittag zu essen. Wie immer war das Angebot ein Befehl gewesen, der sich im Tarnmantel einer Einladung versteckte. Geiger hatte still dagesessen, während Carmine ihn und den hyperaktiven Jungen, der ungefähr in Ezras Alter gewesen war, mit Geschichten über seine Zeit in der Marine und bei der Gewerkschaft erheiterte. Schließlich beugte Carmine sich zu ihm und sagte:
»Als du zur Tür hereingekommen bist, hat mein Neffe Michael etwas gesagt. Erzähl Geiger, was du gesagt hast, Michael.«
Der Junge hatte den Blick starr auf seine Pasta Primavera gerichtet. »Weiß ich nicht mehr«, sagte er. Dann hob er den Kopf, und in seinem Blick auf Carmine lag die verständnislose und mürrische Frage: Warum zwingst du mich dazu?
Carmine lächelte wohlwollend; aber so wirkte sein Lächeln immer. »Komm schon, Michael, sag Geiger, was du gesagt hast.«
»Ich sagte …«, murmelte der Junge und blickte Geiger an. »Ich sagte, Sie sehen komisch aus.«
»Drück dich präziser aus, Michael«, forderte Carmine ihn auf. Der Junge zeigte eine schicksalsergebene Miene.
»Ich sagte: ›Guck dir den Kerl an. Ich wette, der ist entweder durchgeknallt oder geistig
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