Der Spezialist: Thriller
»Manny! Ein Cheddar-Omelett, knuspriger Speck, Fritten dunkel! Carla – gib mal einen Augenblick bei mir mit Acht.«
Rita und ihr Schützling verschwanden in dem düsterenGang, und Harry setzte sich wieder. Der Kaffee besänftigte den Schmerz in seinem Kopf, und er versuchte seine Gedanken zu entwirren, indem er eine Liste jener Punkte aufstellte, die er klären musste.
Punkt eins: Hall war an der Firewall der Website vorbeigekommen. Harry hielt es für unmöglich, ohne legitime Referenz einzudringen; deshalb sollte er vielleicht denjenigen kontaktieren, der Hall empfohlen hatte, um mehr über den Kerl zu erfahren. Doch Hall war von Colicos empfohlen worden, dem Schrottbaron, und an diesen Mann heranzukommen wäre alles andere als einfach.
Punkt zwei: Konnte Hall jemanden über das Signal seines Handys aufspüren? Möglich – wenn er eine Kontaktperson bei einem der großen Mobilfunkanbieter hatte.
Punkt drei: Was sollte er mit Lily anfangen? Ihm fehlte das Bargeld, um einen Mietwagen zu nehmen oder ein Taxi zu bezahlen, damit sie zurück nach New Rochelle kam; überdies hatte er die Telefonnummer der Pflegerin nicht, konnte sie also nicht anrufen und Lily abholen lassen. Im Augenblick musste es wohl weitergehen mit dem geschwisterlichen Ausflug.
»Einsatz erfolgreich abgeschlossen.«
Rita war zurück. Sie ließ Lily auf den Sitz sinken und stellte Harry einen Teller mit Essen hin.
»Sie hat eine Windel getragen. Jetzt hat sie keine mehr an«, sagte Rita. »Du solltest ihr welche besorgen.«
»Okay.«
»Noch etwas, Harry.«
»Ja?«
»Sie hat etwas gesagt.«
Bevor Harry die Gabel zum Mund führte, erwiderte er: »Ja, ich weiß. Sie singt gern Lieder.«
Rita schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat nicht gesungen. Sie hat gesagt: ›Puller, puller, puller.‹«
Die Vergangenheit und Träume, leichter als die Luft, umschlossen Harry wie ein Kraftfeld. Er legte die Gabel auf den Teller zurück und blickte seiner Schwester in die dunklen Augen, die an Wunschbrunnen erinnerten.
»Das hat sie gesagt? ›Puller, puller, puller‹?«
»Ja. Du weißt schon, beim Pinkeln.«
Harry spürte Ritas Hand auf der Schulter und bemerkte, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er streckte die Hand aus und rieb seiner Schwester sanft über den Arm.
»O Gott, Lily. Du bist immer noch irgendwo da drin, nicht wahr?«
Rita drückte seine Schulter und sagte: »Du bist ein feiner Kerl, Harry. Nicht jeder würde sich um seine Schwester kümmern, wenn sie … wenn sie so ist.«
Harry lehnte sich zurück und wischte sich die Tränen ab. »Das siehst du falsch, Rita, aber trotzdem danke.« Er nahm wieder seine Gabel. »Seltsam. Das hat mir heute schon jemand gesagt.«
»Das macht zwei gegen einen, Harry. Also muss ich wohl recht haben.«
»Ja. Wie könnte ich mit dir streiten? Oder mit einem Taxifahrer aus Louisiana?« Er schaufelte sich Omelett in den Mund, verharrte aber, als er den ersten Bissen geschluckt hatte.
Der Taxifahrer! Mit einem Mal hörte er die gedehnte Stimme des Mannes sagen: »Ich hab auch ’ne Schwester.«
Harrys Sinne wechselten wie ein Pingpongball von Unsicherheit zu Paranoia und wieder zurück, während er die Szene im Taxi in seinem Kopf noch einmal durchging. Er war sich augenblicklich sicher, dem Fahrer kein Wort davon gesagt zu haben, dass Lily seine Schwester war.
Konnte der Fahrer ihr Gespräch belauscht und den Schluss gezogen haben, wer Lily war? Oder hatte der Mann bereits gewusst, wer sie beide waren, ehe sie ins Taxi stiegen? Geiger hatte gesagt, der Junge, Ezra, glaube, dass Hall noch zwei Leute habe.
Harry schluckte mühsam den zerkauten Bissen hinunter.
»Habt ihr einen Hinterausgang, Rita?«
»Ich dachte, du kommst um vor Hunger.«
»Nun sag schon.«
»Ja, den Gang runter. Er führt zu einer Gasse hinter dem Gebäude.«
Harry stand auf und zog Lily hoch. Er nahm ein paar Geldscheine aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
»Wenn ein Rothaariger mit Schnurrbart nach mir fragt, hast du mich nicht gesehen. Der Bursche könnte einen Südstaatenakzent haben.«
»Du machst mir echt Gänsehaut, Harry.«
»Dann sind wir ja schon zu zweit.«
Harry nahm unversehens Ritas Wangen zwischen die Hände und küsste sie rasch.
»Bis dann«, sagte er und zog Lily in den Gang.
Auf der Gasse kochte die Morgenwärme auf der Müllpatina des Pflasters. Harry ergriff Lilys mageren Unterarm, hielt sie hinter sich fest und spähte um die Ecke wie eine Maus in einem von Katzen beherrschte
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