Der Spiegel aus Bilbao
ich nicht riskieren will, daß sie mir noch ein Verfahren anhängen.
Außerdem bleibt bitte auch auf jeden Fall weg vom Kutscherhaus, denn ich habe
es für die Feriensaison vermietet, und ich will auf keinen Fall, daß ihr meinen
Mieter nervt.«
»Wer ist denn dein Mieter?«
brüllte Jesse, der älteste und lauteste von Lionels Sprößlingen.
»Das geht dich gar nichts an,
weil er dich mit etwas Glück überhaupt nicht zu Gesicht bekommen wird. Wo ist
eigentlich Vare? Warum um Himmels willen hast du sie nicht mitgebracht, wo du
doch wußtest, daß du zwischendurch Besorgungen machen mußt?«
»Vare kommt nicht«, rief der
neunjährige Woodson, der Zweitälteste von Lionels Stamm. Seine Söhne hatten die
unangenehme Angewohnheit, ihre Eltern mit dem Vornamen anzureden. »Sie wird
jetzt ‘ne Lesbe.«
»Das heißt Lesbierin, Woody«,
korrigierte ihn sein Vater mit der ruhigen Distanz, die seine progressiven
Ansichten erforderten. »Vare hat beschlossen, ihre homosexuellen Neigungen zu
erforschen und lebt jetzt mit Tigger zusammen.«
»Das könnte die klügste
Entscheidung sein, die sie je getroffen hat«, meinte Sarah.
Lionel zu heiraten und ihm im
Laufe von weniger als vier Jähren vier Söhne zu gebären, um die bereichernde
Erfahrung der Mutterschaft auszukosten, war zweifellos die dümmste gewesen,
aber das war eben typisch Vare. Sarah erinnerte sich schwach, daß Tigger die
ehemalige Zimmergenossin irgendeiner Cousine gewesen war. Sie hatte sich
manchmal bei Familienfesten herumgedrückt, jeden angestarrt, der versucht
hatte, mit ihr zu reden, und nie auch nur ein einziges Wort von sich gegeben.
Kein Wunder, daß Vare sich zu Tigger hingezogen fühlte.
Sarah fühlte einen Anflug von
Mitleid für die vier Horrorkinder in sich aufwallen, aber ihre schlechten
Erfahrungen hatten sie gelehrt, wie gefährlich es sein konnte, in dieser
Familie edlen Gefühlen nachzugeben.
»Fahr wieder von der Auffahrt«,
forderte sie Lionel so bestimmt wie möglich auf. »Bieg nach links ab, wenn du
die alten Reifenspuren siehst, und folge ihnen bis zum Bootshaus. Mr. Lomax
kommt mit seinem Kleinlaster gut durch, du solltest also mit deinem Fahrzeug
auch keine Probleme haben. Wenn du steckenbleibst, kannst du gern ein paar
Schaufeln leihen und die Straße reparieren. Dabei wirst du wertvolle
Erfahrungen sammeln und herausfinden, wie es ist, ein Grundstück wie dieses für
nassauernde Verwandte in Schuß zu halten.«
Lionel wollte etwas sagen,
besann sich aber offenbar eines Besseren und fuhr in einer Wolke aus blauem
Rauch von dannen. Sarah, die das Gefühl hatte, zwar eine Schlacht gewonnen, den
Krieg aber wahrscheinlich verloren zu haben, ging wieder ins Haus, zurück zu
ihrem Kaffee, als Max endlich eintraf.
»Was zum Teufel ist denn da
gerade an mir vorbeigefahren?« fragte er sie.
»Lionel Kelling und sein
Wanderzirkus«, antwortete Sarah bitter. »Tante Appies einziger Sohn, Gott sei’s
gedankt, und seine schreckliche Brut. Ihre Mutter hat gerade beschlossen,
lesbisch zu werden.«
»Hätte ihr das nicht eher
einfallen können? Die bleiben doch nicht etwa hier?«
»Wir haben uns geeinigt, daß
sie unten am Bootshaus ihre Zelte aufschlagen dürfen. Ich habe ihnen alles
angedroht, was mir eingefallen ist, falls sie herkommen und uns auf die Nerven
gehen, aber ich befürchte, das ist ihnen ziemlich gleichgültig.«
»Na ja, Kinder stören mich
nicht.«
»Diese Kinder bestimmt«,
versicherte Sarah. »Sie werden so erzogen, daß sie sich völlig frei entfalten
können. Übersetzt heißt das, daß Lionel nicht den Mumm hat, so gemein zu sein,
wie er gern möchte, also hat er seinen Sprößlingen beigebracht, seine
Aggressionen für ihn auszuleben.«
»Gütiger Gott. Wie lange wollen
sie bleiben?«
»Bis ich es schaffe, ihnen
alles so zu vermiesen, daß sie wieder verschwinden, vermute ich. Komm ins Haus,
und iß was. Du bist bestimmt halb verhungert. Hast du Tante Appie
vorschriftsmäßig abgeliefert?«
»Kein Problem, Jofferty hatte
Dienst. Er bestellt viele Grüße.«
»Ich hoffe, du hast ihm auch
viele Grüße von mir ausgerichtet. Kaffee?«
»Ich bitte darum. Ich kann ihn
brauchen.«
»War sicher ganz schön schlimm,
oder?«
»Mehr schlimm als schön, nach
dem zu urteilen, was Jofferty mir erzählt hat. Sie wollten mich nicht ins Haus
lassen. Die Leiche hatten sie schon abgeholt, und das Zimmer, in dem sie
gefunden wurde, war versiegelt. Für deine Tante war es sicher besser so.
Jofferty glaubt, daß der
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