Der Spiegel aus Bilbao
geben. Sie fand eine alte
Popelinjacke, die von ihrer Mutter irgendwann in Ireson’s Landing vergessen
worden war und die Sarah schon vor Jahren übernommen hatte, zog sie an und
schloß die beiden Knöpfe, die noch übriggeblieben waren.
Sobald sie draußen war, zog sie
sich die Kapuze über den Kopf, denn der Wind war noch heftiger, als sie
erwartet hatte. Heute nacht riskierte sie es besser nicht, den Weg über die
Klippen zu nehmen. Alexander hatte ihr immer gepredigt, nur ja vorsichtig zu
sein. Sarah war klein und zierlich, ein starker Windstoß konnte sie leicht aus
dem Gleichgewicht bringen und über den Klippenrand werfen.
Aber sie konnte hinunter zum
Kutscherhaus schlendern, um nachzusehen, ob Max vielleicht zufällig schon
früher zurückgekommen war, als er eigentlich vorgehabt hatte. Das tat sie dann
auch, aber er war nicht da, so daß Sarah weiter durch das Kiefernwäldchen den
Hügel hinabging. Hier im Zwielicht war es wunderschön. Überall leuchteten
tapfer zarte weiße Milchsterne. Frauenschuh war schwieriger zu entdecken, und
sie freute sich, wenn sie eine Pflanze erspähte. Sie hatten sich wieder gut
erholt, seit dem schrecklichen Tag, als ein Vandale hergekommen war und die
meisten von ihnen gepflückt hatte. Alexander hätte sich darüber sehr gefreut. Er
hatte sich schreckliche Sorgen wegen des Frauenschuhs gemacht.
Jetzt wurde der Boden feuchter,
und sie erreichte allmählich das Laubwäldchen. Dort wuchs der Farn üppiger,
momentan zeigten sich allerdings lediglich längliche grüne Blätter, deren
Spitzen wie Violinenschnecken gerollt waren und die an ein Streichorchester
erinnerten. Wenn Sarah im Frühjahr den Farn ansah, fielen ihr sofort die
Freitage in der Bostoner Symphonie ein. Im ersten Winter nach dem Tod ihrer
Mutter war sie mit ihrem Vater immer hingegangen, weil er zwei Abonnementkarten
gekauft hatte, die er unmöglich verfallen lassen konnte. Im folgenden Jahr
hatte er jedoch das Abonnement gekündigt, da er sich sowieso nie großartig für
Musik interessiert hatte. Seitdem hatte Sarah dort nur noch Konzerte besucht,
wenn jemand eine Karte übrig hatte, was aus irgendeinem Grund immer der Fall
gewesen war, wenn man etwas von Hindemith oder Bartók gespielt hatte. Bis vor
kurzem jedenfalls.
Max liebte klassische Musik. Er
hatte sie schon zu mehreren Konzerten mitgenommen. Vielleicht würden sie auch
ein Abonnement haben, wenn sie verheiratet waren. Die Frage war, wann es soweit
sein würde. Daß Sarah ihn heiraten wollte, stand zumindest für sie inzwischen
fest.
Wie hundsgemein von den
Larringtons, diese Lügen über Max zu verbreiten. Sie steckten bestimmt gerade
wieder die Köpfe zusammen und kamen zu dem Schluß, daß er irgendwohin gefahren
war, um sein Diebesgut zu verkaufen. Ganz sicher hatten sie erfahren, daß er
nicht hier war. Bradley Rovedock hatte es bestimmt erzählt, wenn Pussy Beaxitt
ihm nicht zuvorgekommen war. Sie hatte es von Appie, und Gott allein wußte, was
sie sonst noch zu hören bekommen hatte, da Appie es niemals schaffte, etwas
richtig zu verstehen. Die arme Tante Appie machte bestimmt eine furchtbare Zeit
durch, denn sie wollte sicher auf keinen Fall schlecht von Sarahs Mieter
denken, konnte aber andererseits auch nicht zugeben, daß ihre Freunde etwas
Schreckliches über jemanden sagen konnten, wenn es nicht der Wahrheit
entsprach.
Hier unter den Bäumen wurde es
auf einmal ziemlich dunkel. Sarah hatte eine Taschenlampe dabei, aber die würde
ihr nicht viel nutzen, wenn sie zu weit vom Weg abgekommen war und die Nacht
zwischen Giftsumach herumirrend verbringen mußte. Das Beste war, so zu gehen,
daß der Wind von rechts kam, weiter den Hügel hinab, bis sie die ausgebrannte
Lichtung gefunden hatte, wo bis vor kurzem ihr Bootshaus gestanden hatte. Dann
konnte sie den Wagenspuren bis zur Auffahrt folgen.
Sie kämpfte sich mühsam
vorwärts, zupfte sich die Brombeerranken von den Beinen und fragte sich, wie
sie es bloß immer wieder schaffte, in solche Situationen zu geraten. Plötzlich
wurde ihr bewußt, daß sie außer dem Rauschen des Windes in den Bäumen auch
menschliche Stimmen hören konnte. War es möglich, daß Mr. Lomax und Pete
zurückgekommen waren, um den Rest des Bootshauses abzutragen? Es wäre nicht das
erste Mal, daß ihr Hausverwalter unerwartet auftauchte, um seine Arbeit zu
beenden, und während dieser Jahreszeit hatte er viel zu tun.
Aber warum hörte sie so viele
unterschiedliche Stimmen, und warum klangen sie so jung? Hatte
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