Der Spiegel aus Bilbao
Verfechter der Theorie der Selbstvervollkommnung gewesen, auch
noch, nachdem sie die Wonnen der Fortpflanzung entdeckt hatten. Sarah erinnerte
sich daran, wie sie eines Tages im Busch-Reisinger-Museum in Cambridge auf Vare
gestoßen war. Zu diesem Zeitpunkt war Jesse als Ausbeulung in einem Leinentuch
auf Mutters Rücken erkennbar und Woody lediglich eine Ausbeulung unter ihrem
Poncho gewesen.
»Ich möchte sie möglichst früh
ästhetischen Reizen aussetzen«, hatte Vare erklärt.
Das war ihr heiliger Ernst
gewesen. Vare hätte einen Witz nicht einmal erkannt, wenn er auf sie zugelaufen
wäre und sie ins Bein gebissen hätte.
»Aber der Kleine im Tragetuch
schläft, und das andere Kind ist noch nicht einmal geboren«, hatte Sarah
protestiert.
»Ich habe ja nicht gesagt, daß
ich ihnen etwas beibringen will«, hatte Vare sie aufgeklärt. »Ich habe nur
gesagt, daß ich sie diesen Erfahrungen aussetzen will. Unterschwellig, weißt
du. Wenn sie weit genug sind, derartige kulturelle Werte bewußt wahrzunehmen,
werden Lionel und ich sie mit verschiedenen künstlerischen Reizen unter
Zuhilfenahme von Dias, Büchern, Vorträgen und in der direkten Begegnung mit der
Materie vertraut machen. Wir besuchen bereits an den Abenden, an denen wir
nicht mit Yoga oder Kanubauen beschäftigt sind, Auffrischungskurse in
Kunstgeschichte.«
Lionel mußte demnach eigentlich
in der Lage sein, einen Fantin-Latour zu erkennen, wenn er einen zu Gesicht
bekam, ganz zu schweigen von einem Millard Sheets. Wäre es Lionel zuzutrauen,
einen Kunstraub mit dem Ziel zu begehen, seine schwierige finanzielle Situation
zu verbessern, und eine Diamantenkette liegen zu lassen, weil sie zufällig
nicht auf seiner Liste der zu stehlenden Objekte stand?
Eigentlich paßte das alles viel
eher zu Vare. Vielleicht hatten sie und Tigger beschlossen, ihre
Selbstvervollkommnung durch schweren Diebstahl voranzutreiben.
Amüsant war der Gedanke
jedenfalls nicht. Aber Sarah kam zu dem Schluß, daß sie Vare so etwas durchaus
Zutrauen würde. Alles, was ihr Cousin und seine Frau je getan hatten,
angefangen bei den Flitterwochen im Camp für Überlebenstraining bis hin zur Akkordproduktion
von Jesse, Woodson, James und Frank, war immer mehr durch Vares Initiative als
durch die von Lionel zustandegekommen. Sie würde ein Vermögen verwetten, daß es
auch Vares Idee gewesen war, Mann und Söhne für den Sommer bei Sarah abzuladen.
Vare hatte bestimmt angenommen, daß ihre Mannen jetzt ohne große Gegenwehr das
Kommando übernehmen und alles nach eigenem Gutdünken organisieren konnten,
jetzt, wo Alexander nicht mehr da war, um sie zu bremsen.
So unrecht hatte Vare damit
nicht einmal. Sarah hatte gedacht, daß sie ihre Besucher los wäre, dabei waren
sie immer noch da, als ob nichts passiert wäre. Das Schlimmste war, daß Sarah
es nicht übers Herz brachte, sie jetzt wieder wegzuschicken, wo sie sich so
viel Arbeit damit gemacht hatten, den scheinbar völlig zerstörten Campingplatz
nicht nur bewohnbar, sondern sogar richtig gemütlich zu machen. Es blieb ihr
nichts anderes übrig, als die nächste Katastrophe abzuwarten, die zweifellos
nicht lange auf sich warten ließ. Sie ging zum anderen Ende des Baumstammes, in
dem kein Beil steckte, und setzte sich wieder neben Lionel.
»Wo wohnen Vare und Tigger
jetzt?«
»Sie haben eine Wohnung in der
Chauncy Street in Cambridge.«
»So nah bei dir und den
Jungen?«
»Wo sollten sie denn sonst hin?
Vare besucht immer noch Kurse in Harvard, das weißt du doch.«
Sarah wußte es zwar nicht, aber
sie hätte es sich eigentlich denken können.
»Sie hatte ihren Stundenplan
für den Sommer schon genau ausgearbeitet, bevor sie beschloß, diesen Wahnsinn
mit Tigger auszuprobieren. Sie konnte unmöglich alles wieder umwerfen.«
»Warum denn nicht, wenn sie
doch alles andere auch umwerfen konnte. Was hat sie bloß veranlaßt -« Sarah
zögerte. Diese Frage klang zu sehr nach Alice B. »Ich hatte immer den Eindruck,
daß du und Vare einen äußerst stabilen Lebensstil entwickelt hattet«, ergänzte
sie statt dessen und wählte die Ausdrucksweise, die Lionel am ehesten verstehen
würde.
»Das dachte ich ebenfalls«,
erwiderte er düster. »Verdammt noch mal, Sarah, ich kann partout nicht
begreifen, warum sie mich so behandelt. Ich habe doch immer alles getan, was
sie — das heißt, Vare und ich haben stets alle Möglichkeiten sondiert und sind
in allen Lebensfragen zu gemeinsamen Lösungen gelangt. Aber als dieser
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