Der Spiegel der Königin
Erste, was ich von Stockholm gesehen habe, w a ren die drei goldenen Kronen auf der höchsten Spitze des Schlosses«, flüsterte Emilia. »Dreißig ungarische Mü n zen hat König Gustav einst einschmelzen lassen, um sie zu vergolden. Damals, als ich und meine Schwester an Deck des Schiffes standen, das uns aus Finnland an die schwedische Küste trug, leuchteten sie nur für mich!«
Heute spürte Elin das alte Stroh nicht, das unter das zerschlissene Laken gestopft war. In der dunklen Mag d kammer, wo neben der Bettkiste noch drei große Öltöpfe und eine Wäschetruhe standen, schien Emilias Stimme in jedem Winkel zu schweben. Ihre Arme aber umfingen Elin fester und wirklicher denn je. Unter der grob gewe b ten Wolldecke war es warm, aber Elin wusste nur zu gut, dass die Haut der Magd heiß vom Fieber war. Sorge schnürte ihr die Kehle zu.
»Und jetzt werden die Kronen dich begrüßen!«, sagte Emilia. »Hast du gesehen, wie Greta und die anderen dich angeschaut haben ? Keiner hat gewagt, auch nur ein Wort zu dir zu sagen!«
Elin dachte an die ungläubigen, ängstlichen Blicke und an Annagrit, die schon am Abend in der Küche e r schienen war und sich an die Arbeit gemacht hatte.
»Ich verstehe nur nicht, warum die Königin Greta auch noch belohnt hat«, sagte sie. »Sie hat jetzt genau das, was sie wollte – ihre Gemeinheit hat sich für sie au s gezahlt.«
Emilias leises Lachen schwebte in der Dunkelheit. »Unsere Königin ist nicht dumm«, antwortete sie. »Was meinst du, wer wäre die Nächste gewesen, der sie das Leben schwer gemacht hätte?«
»Du.«
»Oh ja – aber jetzt ist ihre Tochter hier und Greta wird keinen Grund mehr haben, Unruhe zu stiften.«
»Leute wie Greta werden immer einen Grund finden«, murmelte Elin. Emilia kniff sie in den Oberarm.
»Sei du nicht undankbar! Die Königin nimmt dich mit auf ihr Schloss! Du wirst nur erlesene Speisen essen und in Atlasseide und Spitze gekleidet sein. Den ganzen Tag spielt Musik und es gibt nichts als Vergnügungen. Am Stockholmer Hof trinkt man nur Wein und isst das za r teste Fleisch.«
»Ich werde in der Küche arbeiten«, flüsterte Elin. »Und dann schicke ich dir Geld und Medizin.« Der Griff an ihrer Schulter wurde fester.
»Nein, Elin«, sagte Emilia streng. »Blick nach vorn und niemals zurück, hörst du? Unsere Wege trennen sich und das ist gut und soll so sein!«
Elin schwieg. Ein Kloß saß in ihrem Hals und je mehr sie sich bemühte, ihn hinunterzuschlucken, desto größer wurde er.
»Wir suchen uns das Schicksal nicht aus«, sagte Em i lia bitter. »Gott stellt uns in die Welt wie Spielfiguren. Es gibt nur zwei Wege – in den Schlamm der Armut, auf die Schlachtfel d er und ins Elend. Oder in die Schlösser, die feinen Kammern und an die gedeckten Tische. Die Re i chen sind reich und die Armen arm – und berühren we r den sich diese Welten nie.« Tränen stiegen Elin in die Augen, rannen über ihre Nase und versickerten in Emil i as herrl i chem Haar, das sie an Herbstblätter erinnerte, die von Raureif überzogen waren.
»Ich will dich aber wieder sehen, Emilia. Du bist alles, was ich noch habe.«
»Das ist Unsinn, Kind. Ich war mit deiner Tante b e freundet, das ist alles. Aber deine Tante und deine Eltern sind tot, also lass sie ruhen – und mich gehen.« Sanft strich Emilia über Elins Wange. »Nicht weinen«, mu r melte sie. »Tränen sind so nutzlos wie verschütteter Wein.«
»Erzähl mir noch einmal von meinen Eltern, Emilia!«
»Ach Kind, du weißt, dass es da nicht viel zu erzählen gibt. Es war Herbst, als du ins Dorf gebracht wurdest – dein Vater war immer noch im Krieg, aber er hatte dafür bezahlt, dich nach Gamla Uppsala schaffen zu lassen. Du warst mehr tot als lebendig, als du hier ankamst – sta r rend vor Dreck und Läusen, krank von der Schiffsfahrt. Aber deine Tante nahm dich mit offenen Armen auf. Sie war eine gute Frau. Sie hat viel geweint in jener Zeit und gebetet, dass dein Vater lebendig zurückkehrt. Nun, wir wissen ja beide, wie es ausging.«
»Und sie wusste wirklich nichts über meine Mutter?«
»Kein Name, nein. Nur dass ihr Bruder sie in Usedom kennen gelernt hatte, erfuhr sie. Du musst ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Ich habe Ansgar nie ke n nen gelernt, aber deine Tante sagte, sie und ihr Bruder wären sich schon als Kinder sehr ähnlich gewesen – sie hatte dunkles Haar und b raune Augen. Deine Tante e r zählte, dass ihm die meisten Haare ausfielen, bevor er zwanzig
Weitere Kostenlose Bücher