Der Spiegel der Königin
fühlen, wie die Sicherheit i h rer mathematischen Studien und das Wissen über die M a schine Mensch ihr entglitten. An die Stelle der G e wissheiten traten Chaos und Ent t äuschung, gespiegelt in den Gesichtern dreier Frauen: einer traurigen Mu t ter, die seit zwanzig Jahren um ihr totes Kind weinte, einer selbs t süchtigen Mutter, die zu ihrer Tochter so kalt war wie eine Tote. Und einer toten Mutter, die ihre wahren Züge hinter einem Vorhang aus bleichem Haar verbarg.
Direkt nach dem Festmahl, bei dem Maria Eleonora ihre Tochter pausenlos um eine höhere Apanage anbette l te, brach Kristina überraschend mit hohem Fieber zusa m men. Als Elin völlig verstört bei ihrem Gemach a n kam, hatte Doktor van Wullen Kristina bereits zur Ader gela s sen. »Gut dass Sie hier sind«, murmelte er. »Sie hat schon nach Ihnen verlangt. Wischen Sie ihr die Stirn ab, wenn sie unruhig wird.« Elin nickte und ließ sich mit zitternden Knien neben dem Bett nieder. Fräulein Ebba war nicht da – Elin nahm an, dass Kristina sie wegg e schickt hatte, um Maria Eleonora zu beschäftigen. Im Zimmer brannten Kerzen, die Vorhänge waren zugez o gen. Kristinas Haut glänzte vor Fieberschweiß. Elin kam sich vor, als wäre sie mit der Königin begraben worden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Ihre Mutter hatte sie verloren, das begriff sie. Aber was, wenn sie nun auch noch Kristina verlieren würde?
Gegen Mitternacht schreckte Kristina hoch. Beim A n blick der geschlossenen Vorhänge riss sie entsetzt die Augen auf. Ihre Fingernägel wurden zu Krallen, die s i chelförmige Male auf Elins Arm hinterließen.
»Das Herz!«, flüsterte die Königin atemlos. »Das schlagende Herz!« Elin versuchte sie zu beruhigen, aber die Köni g in richtete sich auf und weinte. »Barmherziger Gott, sie hat sein Herz genommen … in der goldenen Kapsel hängt es!«
»Da ist kein Herz!«, flüsterte Elin, selbst zu Tode e r schrocken. Nur langsam kam Kristina zu sich. Ihre irre n den Augen fanden ein wenig Ruhe.
»Mach die Vorhänge auf, um Gottes willen!«, bat sie. »Ich will die Nacht sehen! Und lösche die Kerzen. Ich war lange genug in einer Gruft eingesperrt.«
Elin sprang auf und riss die Vorhänge zur Seite.
»Sehen Sie? Kein Herz!«, rief sie.
Die Königin wandte ihr die fiebrigen Augen zu.
»Es ist immer da«, flüsterte sie. »Das Herz meines t o ten Vaters. Ihn verfolgte sie mit einer krankhaften Zune i gung. Mich hat sie gehasst.«
Elin dachte an Maria Eleonoras maskenhaftes Gesicht und schauderte.
»Siehst du meine schiefe Schulter?«, flüsterte Kristina. »Ich bin ein Krüppel – nicht besser als die Unglücksme n schen, mit denen sie sich umgibt. Sie hat mir nie verzi e hen, dass ich nicht als Sohn auf die Welt kam und dass mein Vater mich liebte. Man sagte, ein Balken fiel auf meine Wiege und brach mir die Schulter. Aber ich weiß, dass meine Mutter heimlich hoffte, ich würde sterben. Vielleicht misshandelte sie mich oder ließ mich absich t lich fallen.«
»Das … ist ein Fiebertraum, Kristina«, sagte Elin sanft.
Die Königin schüttelte heftig den Kopf. Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn.
»Dieser Albtraum ist mein Leben«, sagte sie. »Und zwar seit dem Moment, als meine Mutter mit dem Sarg meines Vaters aus Deutschland zurückkehrte. Sie ließ seinen Leichnam einbalsamieren und weigerte sich jahr e lang, ihn bestatten zu lassen.« Das Reden strengte die Königin so sehr an, dass sie nach Luft rang, und Elin b e eilte sich, ihr den Schweiß abzutupfen. »Bei ihrer Rüc k kehr war ich ein Kind«, flüsterte Kristina. »Mit einem Mal liebte sie mich, weil ich ihrem toten Gemahl ähnlich sah, sie e r stickte mich in ihren Umarmungen. Sie zog mit mir nach Nyköping, ließ alle Gemächer mit schwarzem Stoff au s schlagen und die Fenster verhängen. Narren und Krüppel lungerten in dieser Gruft herum und erschrec k ten mich zu Tode. Kerzen brannten Tag und Nacht. Stä n dig trug diese Wahnsinnige das Herz meines Vaters in einer go l denen Kapsel mit sich herum. Sein Sarg stand am Fuß der Treppe – manchmal ging ich daran vorbei und bildete mir ein, seine Finger zu hören, die verzweifelt an der I n nenseite des Sargdeckels kratzten. Krank, wie sie ist, weinte und klagte sie unaufhörlich. Ihre Tr ä nen nässten das Bett, das ich mit ihr teilen musste. Ein Jahr dauerte diese Folter, bevor Axel Oxenstierna endlich ein Mach t wort sprach und mich erlöste.« Ihre Stimme wurde bitter. »Das, Elin,
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