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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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meiner Loge aus zu. Es interessierte mich wirklich, wer siegen würde. Wer, glaubst du, behielt die Oberhand, als endlich der Morgen anbrach? Du schweigst? Du wirst doch noch weise, mein armer Freund! Ich will es dir sagen. Gott natürlich.»
    Der Bettler nickte. Die Königin nickte ebenfalls.
    «Gott blieb Sieger. Das war vorauszusehen, nicht wahr?» Sie machte eine Pause. Dann schloß sie: «Nur daß ich da nicht mehr wußte, wer von den beiden zu Anfang Gott gewesen war. Einer war nur das Spiegelbild des anderen. Aber ich habe vergessen, wer.»
    Da der Bettler nicht mehr antwortete, sagte sie: «Jetzt kannst du gehen.» Als sie allein war, saß sie lange Zeit reglos und blickte erst auf, als der kleine, gebückte Mann im grauen Anzug vor ihr auftauchte und leise hustete.
    «Lösch die Lichter aus!» befahl sie ihm. «Alle!»
    Und nach einem kurzen Augenblick des Überlegens fügte sie hinzu:
    «Und für immer.»
    «Was willst du tun?» fragte er mit heiserer Stimme.
    Sie erwiderte: «Warten.»
    Der graue Alte blieb stehen und schaute sie an.
    «Worauf?»
    Sie antwortete nicht mehr. Da ging er fort.
    Eine nach der anderen erloschen die Lampen des Bordellpalastes, bis er und mit ihm die ganze Hurenstadt im Dunkel verschwand.

DER WELTREISENDE BESCHLOSS, SEINE WANDERUNG
     
    durch die Gassen dieser Hafenstadt zu beenden. Und damit beendete er zugleich seine Fahrt durch die Slums und Paläste aller anderen Städte, durch Dörfer, Zeltlager und Einsiedeleien, durch alle Wüsten und Urwälder der Erde. Er setzte sich auf die schmutzigen Steinstufen, die zu der Tür eines schmalbrüstigen, hohen Hauses emporführten - einem chinesischen Bordell offenbar, nach der Ampel über der Tür zu schließen -faltete die Hände über dem Griff seines Spazierstocks, stützte das Kinn darauf und starrte, ohne etwas zu sehen, auf die vorübertosenden Automobile und Straßenbahnen. Von einer Sekunde zur anderen war ihm jegliche Neugier, jegliche Lust abhanden gekommen, seine große Reise fortzusetzen. Er versprach sich nicht das mindeste mehr davon.
    Er hatte alle Wunder und Geheimnisse der Welt gesehen. Er kannte die schwebende Mondsteinsäule im Tempel von Tiamat und die gläsernen Türme von Manhattan; er hatte vom Blutgeisir auf der Insel Hod getrunken und mit dem blinden Herrn der Bibliothek von Buenos Aires über das Wesen des Schicksals gesprochen; er hatte den Ring der Königin Mrabatan, der Gewalt über das Erinnern der Menschheit verleiht, an seinem Finger getragen und war - wozu kein Fremder je zuvor Zutritt erhalten hatte - über die Flammenstraßen der Stadt Eldis gewandert; man hatte ihn in stählerner Sänfte durch die Maschinenhallen von Detroit getragen, und es war ihm gelungen, in den Irrgängen der Großen Kloake von Rom zu nächtigen, ohne den Verstand zu verlieren über den Erscheinungen der Vergangenheit und der Zukunft, die dort allnächtlich ihre gespenstischen Schlachten schlagen. Unzähliges hatte er gesehen, aber all diese Geheimnisse gingen ihn nichts an. Sein eigenes war nicht darunter gewesen. Und da er das seine nicht gefunden hatte, waren ihm auch alle anderen stumm geblieben.
    Hätte er diese Reise nur niemals begonnen, so wäre ihm wenigstens der Traum verblieben, daß es irgendwo auf der Welt das Zeichen gäbe, das ihm galt, das zu ihm redete in einer Sprache, die nur er verstand, das der Schlüssel zum Rätsel seines eigenen Daseins war. Nun aber mußte er sich eingestehen, daß nichts dergleichen existierte. Wenn es der Wahrheit entsprach, daß diese Erde nur die unendlichen Formen und Kräfte des Alls widerspiegelt wie eine blanke Silberkugel, so war es also ein Irrtum zu glauben, daß des Menschen Heimat das Universum sei, da es ja nichts gab, was sein Wesen mit diesem verband. War er aber von Anbeginn und für immer ein Fremdling in ihm, so war das Universum zu klein - viel zu klein!
    Der Reisende erschrak ein wenig und blickte hinter sich, weil ein dunkelhäutiges, asiatisches Mädchen in schmucklosem, graublauen Kleid ihn mit leiser, demütiger Stimme fragte, ob es ihr erlaubt sei, den erhabenen Herrn zu bitten, die unzulänglichen Dienste ihrer unwürdigen Person anzunehmen. Dabei wies sie einladend auf ein kleines, flaches Gefährt, welches sie durch die Tür des Hauses bis nahe an den oberen Rand der Steinstufen geschoben hatte. Der Reisende war ein wenig verlegen, auch verärgert wegen des Schreckens, den ihm das Mädchen verursacht hatte, und erklärte barsch, daß der Besuch eines

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