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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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schließlich wurde dem Reisenden bewußt, daß er das silberne Rauschen und Brausen der Wasserstürze sogar hörte, wenn auch freilich sehr zart und fern. Je inniger er in dieses Klingen hineinlauschte, desto deutlicher vernahm er eine Art von gläserner, süßer Musik. «Was ist das?» fragte er und erschrak abermals ein wenig, diesmal über seine eigene Stimme, die ihm laut und roh geklungen hatte.
    Das Mädchen lächelte und erwiderte sanft: «Was der erhabene Herr vernimmt, sind zarte Keime seines eigenen zukünftigen Daseins.»
    Der Reisende verstand diese Antwort nicht, fühlte indessen kein Bedürfnis, weiter zu fragen, sondern überließ sich wieder den wehenden Klängen. Auf eine ihm selbst ganz neue Weise erfüllte sich dabei sein Herz mit einer fast schmerzenden Zärtlichkeit, ja, mit Wollust.
    «Also», flüsterte er, «kann nur ich diese Musik hören?»
    «Außer dir, Herr, und mir kein Sterblicher», antwortete das Mädchen, die Lippen dicht an seinem Ohr.
    Er blickte sie an. «Wieso auch du?»
    «Ich», sagte das Mädchen so leise, daß er es kaum hören konnte, und schlug die Augen nieder, «bin niemand.»
    Viel später hielten sie vor einer hellgelben, fast weißen Wand, auf welcher sich vier runde Scheiben befanden, drei davon in einer Reihe nebeneinander, die vierte ein wenig höher.
    Die erste dieser Scheiben vermittelte dem Betrachter den Eindruck, als blicke er senkrecht von oben auf eine bewegte Wasserfläche. Ununterbrochen zogen wie weiße unregelmäßige Zeilen silberne Wellenkämme vorüber. Diese wurden quer von einem schwarzen Aal durchschnitten, der sich schlangelnd vorwärts zu bewegen schien und doch immer in der Mitte des Bildes blieb. Staunend beobachtete der Reisende das immer wechselnde und doch immer gleiche Schauspiel. Schließlich wollte er sich der nächsten Scheibe zuwenden, da ertönte von der ersten her eine raunende Stimme, nicht eigentlich menschlich, sondern so als bilde sich aus dem Wellenrauschen etwas wie Worte: «Mich erschuf das Meer.» Diese unerwartete Mitteilung ließ den Reisenden neuerlich ein wenig erschrecken. Er fühlte, daß etwas in seinen Tiefen deren Sinn verstanden hatte, allein, es gelang ihm noch nicht, sich dieses Verständnis zu Bewußtsein zu bringen. Er wandte sich mit fragendem Gesicht seiner Begleiterin zu, doch diese neigte nur lächelnd den Kopf. Er fühlte, daß er auf eine direkte Frage keine Antwort bekommen würde, darum schwieg auch er und richtete seine Aufmerksamkeit auf die zweite Scheibe, die rechts neben der ersten hing.
    Zunächst erkannte er darauf etwas wie eine verschneite Bergkuppe, welche nach unten zu in immer dichterem Nebeldunst verschwamm. Erst nach längerer Betrachtung gewahrte er, daß der Berg vielmehr ein ihm zugewandtes menschliches Haupt war, jedoch mit leicht nach unten geneigtem Antlitz. Der obere Teil des Hauptes war ungewöhnlich hoch, und von ihm floß langes schneeweißes Haar zu beiden Seiten hernieder.
    Das Antlitz selbst schien allerdings das eines Kindes zu sein, nicht auszumachen, ob Knabe oder Mädchen. Die Stille, die von diesem Gesicht ausging, war so tief, daß der Beschauer sie nicht einmal durch ein Schlagen seiner Wimpern unterbrechen mochte. So verharrte er reglos, bis er schließlich, ganz ohne Stimme, die Worte vernahm:
    «Ich bin Greis-Kind.»
    Abermals rechts davon und in gleicher Höhe hing die dritte Scheibe. Als der Reisende sich ihr zuwandte, war ihm, als blicke er gleichsam durch eine senkrechte Glaswand in eine golden-dämmernde Unterwasserlandschaft mit hin- und herwallenden Blattpflanzen. Im Vordergrund sah er den Kopf eines Bibers, von links unten nach rechts oben vorstoßend und hin und wieder Luftperlen aus seinen Nasenlöchern sprudelnd, so als sei er eben vor dem Auftauchen. Nachdem der Reisende auch diese Szene lange Zeit versunken betrachtet hatte, vernahm er aus der uralten Golddämmerung die Worte:
    «Ich werde den See erschaffen.» Während all der Zeit, die er nun schon in diesem, wie es schien, unendlich großen Hause zugebracht hatte, war eine Veränderung mit dem Reisenden vorgegangen, die er erst jetzt zu bemerken begann. Was er schon mehrfach und nun auch vor diesen Bildscheiben wieder als eine Art zarten Schreckens erfahren hatte, war mittlerweile zu einem bleibenden Zustand, einer leichten Entrücktheit geworden. Diese Empfindung war ganz neu und ungewohnt für ihn, und doch hatte er keine Bedenken, sich ohne Rückhalt auf sie einzulassen, denn ihm war, als würde auf

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