Der Spiegel von Feuer und Eis
auf, gestikulierte in geheuchelter Verlegenheit und eilte davon, noch ehe er etwas sagen konnte.
Morgwen war nicht weit gekommen. Cassim fand ihn gerade außer Sichtweite, an einen Baum gestützt. Den Rücken hatte er ihr zugekehrt.
»Was ist …?«
Der Laut, mit dem er zu ihr herumfuhr, war eine Mischung aus Keuchen und Knurren, der sie zurückschrecken ließ.
»Verschwinde!« Das Wort klang wie ein Fauchen. Halt suchend krallte er sich erneut an dem Baum fest. Das Eis, das die Rinde überzog, knirschte unter seinem Griff, bekam Risse. In seinen Brauen hingen trübe Schweißperlen, die sich langsam ihren Weg abwärts suchten.
Bei seinem Anblick schüttelte Cassim entsetzt den Kopf. Das war keine bloße Erschöpfung. Was auch immer es war: Es ging ihm mit jedem Herzschlag schlechter. »Nein! Irgendetwas stimmt nicht mit dir! Ich will dir …«
Seine Augen wurden schmal. Er stieß sich von dem Baum ab, kam auf sie zu, fletschte die Zähne. »Du sollst verschwin…« Sein Bein gab unter ihm nach, schwer stürzte er auf die Knie. Der Schmerz entlockte ihm einen gequälten Laut, dann sank er verkrümmt in den Schnee.
Sofort war Cassim neben ihm. Die keuchenden Atemzüge, die zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurchzischten, verrieten ihr, dass er zumindest nicht vollständig bewusstlos war. Sein Mantel hatte sich geöffnet. Er zitterte am ganzen Körper und hatte die Finger in den Oberschenkel gekrampft, als könne er so dem Schmerz begegnen. Jeder einzelne seiner Muskeln schien bis zum Zerreißen gespannt.
»Ich bin da! Alles wird gut!« Cassim beugte sich über ihn, strich mit der Hand über seine Stirn. Er fühlte sich eiskalt und zugleich feuerheiß an. »Was ist mit deinem Bein? Lass mich sehen!« Behutsam versuchte sie, seine Hand zu lösen. Mit einem wilden Knurren fuhr er hoch, seine Finger hatten sich zu Klauen gekrümmt, zuckten in mörderischer Absicht nach ihrer Kehle. Er verfehlte Cassim nur, weil sie noch zurückzuweichen
versuchte, das Gleichgewicht verlor und stürzte. Dennoch spürte sie, wie seine Nägel über ihre Haut kratzten, etwas biss scharf in ihren Nacken, dann landete sie im Schnee und starrte fassungslos zu Morgwen hin, der zurückgefallen war und jetzt wie tot dalag. Ein paar Augenblicke war sie unfähig, sich zu bewegen. Er wollte mich umbringen! Sie verscheuchte den Gedanken. Wahrscheinlich hatte sie ihm wehgetan, und er hatte nur versucht, sie von sich zu stoßen.
Ihr Herz pochte noch immer, als sie sich ihm erneut näherte. Vollkommen reglos lag er in der Kälte. Seine Glieder waren erschlafft. Nur seine flachen, hechelnden Atemzüge verrieten, dass er noch am Leben war.
Vorsichtig beugte Cassim sich über sein Bein, darauf gefasst, erneut hastig zurückweichen zu müssen. Er rührte sich nicht. Ein dunkler Fleck verunzierte das weiße Leder seiner Hose am Oberschenkel. Sie war zerrissen und … Cassim starrte auf die in wütendem Rot leuchtende Wunde, die sich, umgeben von einem Kreis aus fahlen, wassergefüllten Bläschen, von der hellen Haut abhob. Ihr Blick huschte zu Morgwens stillem Gesicht, kehrte zu der Verletzung zurück. Nein! Mit zitternden Fingern riss sie das Hosenbein ein Stück weiter auf, schluckte hart. Nein! Ihre Hände bewegten sich wie von selbst, öffneten die Schließe seines Umhangs, auch das Hemd trug dunkle Flecken. Sie streifte es über der Schulter zurück. Ein Schnitt klaffte hier, ebenfalls rot und von jenen Bläschen umgeben. Nein! Cassim blickte fassungslos auf Morgwen hinab. Ein Krampf spannte seinen Körper für die Dauer eines qualvollen Keuchens, dann wurde er wieder schlaff. Die gleichen Wunden! Feuer und Erde! Es sind die gleichen Wunden. Sie schloss die Augen. Das kann nicht sein! Nein! Bitte, nein! Langsam öffnete sie die Augen wieder. Die Wunden waren noch immer da.
Ihre Hand sank in ihren Schoß, ballte sich dort zur Faust. Die riesige Firnwolfbestie mit dem schwarzen Aalstrich – das war er?! Mit einem Mal saß ein dumpfer Schmerz zwischen ihren Rippen.
Cassim presste die Lippen zusammen, um nicht schreien zu müssen. Dann hatte Jornas doch recht und du dienst der Eiskönigin? – Was du getan hast? Was du gesagt hast? Alles Lüge? – Bitte nicht! Feuer und Erde, bitte, es muss eine andere Erklärung geben! Langsam holte sie Atem, zwang sich, die Fäuste zu öffnen. Es gab keine andere Erklärung. Auch wenn sie es sich mehr als alles andere wünschen mochte, war dieser Wunsch doch vergebens. Morgwen hatte sie die ganze Zeit
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