Der Spiegel von Feuer und Eis
floh. Ihre Schritte hallten von den Eiswänden wider, als sie durch den großen Saal hetzte, unter seinem Türbogen hindurch, und die lang gestreckten Stufen hinab. Immer wieder glitt sie auf dem spiegelnden Boden aus, stürzte hart auf Hände und Knie, nur um sich auf die Füße zu mühen und weiterzurennen. Die Kälte brannte bei jedem Atemzug in ihrer Brust. Als sie das wütende, unmenschliche Heulen hinter sich hörte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Entsetzt blickte sie sich um, erwartete, ihn beinah hinter sich zu sehen.
Das hier war Wahnsinn! Sie konnte ihm gar nicht entkommen! Ihr Blick fiel auf einen Durchgang. Dunkelheit glitzerte dahinter. Auch dort schienen Stufen in die Tiefe zu führen. Abermals sah sie die Treppe hinauf. Wenn sie Glück hatte, nahm er an, sie sei blindlings den gleichen Weg zurückgerannt, den sie gekommen waren. Hastig flüchtete sie die sehr viel schmaleren Stufen jenseits des Durchganges hinab, die steil in eisige Dunkelheit wiesen.
Nach unzähligen scharfen Kehren sank sie schließlich auf die Knie, versuchte, mehr zu hören als ihre eigenen keuchenden Atemzüge. Um sie her war nichts als Stille. Die Hände auf die Seite gepresst, in die sich bei jedem Luftholen ein spitzer Dolch bohrte, kauerte sie sich vornüber. Nur allmählich gelang es ihr, ruhiger zu atmen. Sie hob den Kopf, lauschte angestrengt. Nichts! Da waren keine Schritte auf den Stufen. Langsam stand sie auf. Die tiefe Dunkelheit um sie her wurde nur durch das leise Schimmern des Eises gemildert. Sie sah die Stufen hinab. Darauf zu hoffen, dass er die Suche nach ihr irgendwann
aufgab, war sinnlos. Für sie gab es nur einen Weg: tiefer in den Weißen Avaën hinein und beten, dass es irgendwo dort unten eine Möglichkeit gab, endgültig zu entkommen. Cassim zog den Mantel enger um sich, legte eine Hand gegen die sacht glänzende Wand und folgte der Treppe weiter in das Innere des Berges.
Sie war noch nicht allzu weit gekommen, als sanfter Flammenschein die Dunkelheit ablöste. Wachsam stieg Cassim weiter hinab. Am Ende der Stufen lag hinter einer Biegung eine kleine Kammer, an deren gegenüberliegender Seite sich ein mit Silber und Firndiamanten geschmückter Türbogen befand. Ein Türbogen, der mit einer undurchdringlichen Mauer aus Eis verschlossen war. Sie war gefangen wie eine Maus in ihrem Loch und konnte nur hoffen, dass der Wolf den Eingang übersah.
Mühsam drängte sie die Angst zurück und näherte sich langsam der schimmernden Wand, hinter der der Flammenschein seinen Ursprung hatte. Vorsichtig legte sie die Hände gegen die Kälte, versuchte, durch das Eis hindurchzuspähen. Soweit sie erkennen konnte, befand sich hinter der Mauer ein weiterer Raum. Sie wischte den feuchten Nebel ihres geronnenen Atems mit dem Ärmel fort und beugte sich näher heran. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht mehr ausmachen als das Flackern unzähliger blauer Feuerzungen, die um etwas wie einen wohl mannslangen Eisblock herum brannten und scheinbar den Boden des Raumes vollständig bedeckten. Kälte kroch in ihre bloßen Hände, färbte ihre Haut rot, während Reifblumen auf der schimmernden Mauer erblühten. Plötzlich zitternd trat sie einen Schritt zurück und prallte gegen etwas – jemanden -, der hinter ihr stand. Sie keuchte erschrocken, fuhr herum und blickte in die frostbrennenden Augen des Eisprinzen. Er sagte kein Wort, sondern packte sie nur und zerrte sie mit sich fort.
Erst als sie den Raum erreicht hatten, in dem sich die Bruchstücke
des Spiegels befanden, gab er sie mit einem harten Stoß frei. Blind vor Tränen, stolperte sie vorwärts, stürzte. Scherben knirschten unter ihren Knien, schnitten scharf in ihre Haut. Für einen langen Augenblick starrten sie einander nur an. Ein dünner bläulicher Faden Blut war an seiner Schläfe getrocknet. Sie glaubte, es um seinen Mund zucken zu sehen. Dann ließ er Cassim begreifen, was er damit gemeint hatte, dass sie darum betteln würde, den Spiegel zusammensetzen zu dürfen.
»Ihr habt was?« General Haranas beugte sich bedrohlich über den langen Tisch aus dunklem Holz. Die fünf Minotauren wichen wie ein Mann vor ihm zurück. »Bei den Flammen, so viel Dummheit ist mir noch nie untergekommen.« Wütend ging Haranas auf seiner Seite des Zeltes auf und ab, fuhr aber beinah sofort wieder zu den Kriegern herum. Er war vor nicht einmal einer halben Stunde vom Rücken des Flammenlöwen geglitten, der ihn nach Jarlaith getragen hatte, nur um mit der
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