Der Spiegel von Feuer und Eis
geholt hatten. Bei jeder dieser Gelegenheiten war das Gleiche geschehen: Kurz nach Sonnenaufgang war Morgwen in seine Gemächer zurückgekehrt. Doch die kalte, gelangweilte Maske, zu der seine Züge bei Hofe stets erstarrten, war zerborsten, kaum dass die Türen sich hinter ihm geschlossen hatten. Er war auf dem glänzenden Boden zusammengebrochen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, in sein Schlafgemach zu gelangen. Beinah so, als hätte ihn nur sein Wille bis hierher
gebracht, obwohl er eigentlich schon zuvor nicht mehr die Kraft besaß, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er war halb bewusstlos, als Gaeth ihn zu seinem Bett trug, doch jedes Mal weigerte er sich zu schlafen. Er wollte ein heißes Bad, etwas zu essen, um wenigstens so weit wieder zu Kräften zu kommen, damit er sich ohne Hilfe aufrecht halten konnte – und fort. Raus aus dem Palast, zurück in die Wälder, wo er seine Wolfsgestalt annahm, kaum dass sie die ersten Bäume erreicht hatten, und für Stunden spurlos verschwand. Wenn er dann zu den Höhlen zurückkehrte, war er immer noch seltsam erschöpft und in einer gefährlich düsteren Stimmung, doch offenbar wieder in der Lage, jemanden in seiner Nähe zu ertragen.
Was tatsächlich in diesen Nächten geschah, hatte er nie zu fragen gewagt, und Morgwen hatte nie von sich aus darüber gesprochen. Doch Gaeth hatte still beobachtet – seinen Herrn und die Eiskönigin – und er war zu seiner eigenen, erschreckenden Erkenntnis gekommen.
Mit einem Kopfschütteln verdrängte er den Gedanken. Welche unheiligen Dinge auch gewöhnlich immer in den Gemächern der Königin vor sich gingen, dieses Mal war etwas anders gewesen: In einem solchen Zustand hatte er seinen Herrn und Freund noch nie gesehen.
»Morgwen?« Erneut beugte er sich über ihn, fasste ihn an der Schulter. Zu seiner Erleichterung antwortete ihm diesmal ein schwaches Ächzen. Die leicht bläulich gefärbten Lider zuckten, schafften es aber nicht, sich zu heben.
»Trinken.«
Gaeth las ihm das Wort mehr von den Lippen ab, als dass er es tatsächlich hörte. Rasch sah er sich um. Auf einem runden silbernen Tischchen stand eine Kristallkaraffe, noch zur Hälfte gefüllt mit blassem Wein. Einer der Kelche daneben war umgestoßen, der andere unbenutzt. Er schenkte ihn voll, trug ihn zum Bett zurück, wo er seinem Herrn eine Hand in den Nacken schob und behutsam seinen Kopf anhob, ehe er ihm
dessen Rand an den Mund setzte. Die ersten Schlucke rannen Morgwen beinah gänzlich übers Kinn. Dann schien er ein wenig mehr zu sich zu kommen und trank gierig.
Gaeth beeilte sich, seinem gekeuchten »Mehr!« nachzukommen. Als er ihm erneut den Wein an die Lippen hielt, konnte Morgwen sich mit seiner Unterstützung mühsam auf einen Ellbogen hochstemmen und den Kelch selbst mit zitternden Fingern umfassen. Dass Gaeth ihn ein drittes Mal füllte, verhinderte ein schwacher Wink. Stattdessen ergriff er die bebend ausgestreckte Hand und half seinem Herrn, sich endgültig aufzusetzen. Doch erst nach einem längeren Zögern wagte er es, ihn wieder loszulassen.
»Warum hat Sie es noch einmal getan?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Morgwen wich seinem forschenden Blick aus, wies mit einer vagen Geste auf einen umgekippten Schemel. »Gib mir mein Hemd. Es muss da drüben irgendwo sein.«
Gaeth rührte sich nicht. »Der Spiegel ist wieder zusammengesetzt. Ihre Macht müsste weit jenseits von allem sein, was man sich vorstellen kann. Trotzdem hat Sie dich wieder eine ganze Nacht bei sich behalten, um …«
Er hielt inne, fuhr mit der Hand unwillig durch die Luft. »… um zu tun, was auch immer Sie mit dir tut, um dich in diesen Zustand zu bringen. – Und versuch nicht, mich wie diese Dummköpfe da draußen glauben machen zu wollen, dass du dich mit Ihr bei diesen Gelegenheiten in den Kissen wälzt.« Es verschaffte ihm keine Genugtuung zu sehen, wie der Freund unter der verbalen Ohrfeige zusammenzuckte. Doch zumindest stand jetzt Ärger in seinen Augen, als er zu Gaeth aufsah.
»Du vergisst, mit wem du sprichst!«
»Ich spreche mit Morgwen, meinem Freund. Aber wenn ich mich irre und mit dem Eisprinzen rede, kann er gerne nach den Wachen rufen und seinen Sklaven für seine Unbotmäßigkeit bestrafen lassen.«
»Hör auf damit, Gaeth, du weißt …«
»Nicht ehe du mir endlich sagst, warum Sie dich schon wieder so … benutzt hat!«
Der letzte Rest nicht vorhandener Farbe wich schlagartig aus Morgwens erschöpften Zügen. »Du weißt
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