Der Spiegel von Feuer und Eis
es?«
»Ich habe einen Verdacht! – Frostfeuer, hältst du mich für blöde? Ihre Brut mag die Gerüchte ja glauben, aber ich nicht! – Keiner aus dem Rudel glaubt es, weil wir wissen, wie sehr du Sie verabscheust; falls es dich interessiert!« Mit beiden Händen fuhr er durch sein elfenbeinfarbenes Haar, dann packte er den umgestoßenen Schemel und zog ihn heran. An einem der kunstvoll gedrechselten Beine aus Eis hing Morgwens Hemd. Er warf es ihm zu, ehe er das Möbel unsanft direkt vor dem Bett platzierte und sich darauf niederließ. »Ich kann mir vorstellen, warum du ihrem Ruf immer wieder folgst, auch wenn es mir nicht gefällt – und ich könnte mir denken, den anderen ebenso wenig, wenn sie es wüssten.«
»Gaeth, du …!« »Nein! Du hörst jetzt zu! Irgendwann muss Schluss sein!« Nur mit Mühe konnte er sich dazu zwingen, sitzen zu bleiben. Hätte er seinem Zorn nachgegeben und wäre im Zelt auf und ab gegangen, hätte er über kurz oder lang etwas zerschlagen – was ihnen möglicherweise die Wachen auf den Hals gehetzt hätte. »Ich sehe, in welchem Zustand du zu Ihr gehst und in welchem du zurückkommst – und ich habe Sie gesehen.« Übertrieben tief holte er Atem, ehe er weitersprach. »Allerdings: Ich kann nicht verstehen, wie das sein kann. – Sie ist die Eiskönigin. Man sollte meinen, dass Sie dich nicht braucht; nie gebraucht hat. Vor allem jetzt nicht mehr, da der Spiegel von Feuer und Eis wieder zusammengesetzt ist …«
»Das ist er nicht.«
»… und ihre Macht ins Unendliche gewachsen ist. – - Was?«
»Der Spiegel ist nicht zusammengesetzt. – Zumindest nicht
so, wie Lyjadis es wollte.« Morgwen streifte sein Hemd umständlich über den Kopf.
Als seine ungeschickten Bemühungen Gaeth zu lange dauerten, griff er zu und zerrte es herunter. »Sag mir, warum!«
»Ich konnte es nicht!«
»Das reicht mir nicht! Ich will wissen, warum du Lyjadis zum ersten Mal nicht das gegeben hast, was Sie wollte – obwohl Sie dich wieder mit den Welpen erpresst.«
»Ich konnte es nicht! – Gib dich damit zufrieden.«
»Nein!«
»Frostfeuer, Gaeth!« Morgwen sprang vom Bett auf, offenbar mit der Absicht, seinem Ärger Luft zu machen, indem er auf und ab ging. Er schaffte gerade zwei Schritte bis zum nächsten Zeltpfosten, ehe seine Beine unter ihm nachgaben und er sich an dem gedrehten Eis festhalten musste, um nicht zu fallen. Reglos blieb Gaeth sitzen, lauschte den abgehackten Atemzügen seines Freundes und wartete. Als Morgwen ihn schließlich wieder ansah, hatte die Schwäche auch einen Teil seiner Wut verschlungen. »Ich konnte es nicht! Das Weinen …«
Gaeths Brauen fuhren in die Höhe. »Du hast dich von den Tränen eines Menschen rühren lassen?«
»Ja! Nein! Verdammt, nein, ich rede nicht von Cassim!«
»Cassim?« Bisher war die Kleine immer nur »das Mädchen« gewesen.
»Es war der Spiegel!« Morgwen schüttelte so heftig den Kopf, dass es ihn beinah sein ohnehin wackeliges Gleichgewicht gekostet hätte. »Ich weiß, wie verrückt es sich anhört! Ich dachte zuerst ja selbst, dass es unmöglich sein kann, aber – Gaeth – ich habe den Spiegel gehört! Wirklich gehört!« Seine Finger umklammerten das Eis. Unter seinem Griff quollen klare, glitzernde Rinnsale hervor. »Er … er sang. – Ein Lied von all dem, was früher einmal war. Was für immer verloren wäre, wenn er nach Lyjadis’ Willen zusammengesetzt würde. Ich konnte es vor mir sehen. Riechen. Schmecken. Beinah greifen.« Abermals schüttelte
er den Kopf, sehr viel bedächtiger diesmal. »Nichts davon war für mich bestimmt. Sein Lied nicht; die Bilder nicht. Nichts! Es galt alles Cassim. Und trotzdem war ich … ein Teil davon.« Er schloss die Augen. »Je weiter sie ihn falsch zusammensetzte, umso grausamer wurde alles verzerrt und verdreht. – Und mit jeder Scherbe weinte er mehr.« Zitternd holte er Atem. »Der Schmerz war unerträglich. Ich dachte, es zerreißt mich.« Seine Hände gaben den Pfosten frei. Schwer lehnte er sich mit dem Rücken dagegen. »Ich habe ihn wieder zerstört und ihr gesagt, sie soll ihn noch einmal zusammensetzen.« Er sprach zu den schimmernden weißen Zeltbahnen über seinem Kopf. »Ich konnte nicht anders!«
Gaeth schwieg mehrere Augenblicke lang. Schließlich nickte er. »Und das Mädchen? Cassim? Ich habe gehört, du hast sie getötet, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte?«
»Ich wollte sie gehen lassen.« Morgwens Stimme war vollkommen leer. »Obwohl sie mich
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