Der Spiegel von Feuer und Eis
nicht allzu weit entfernt die Stimmen. Cassim zuckte zusammen, schlang die Arme um sich.
»Sie werden uns nichts tun.« Morgwen kniete sich hin und scharrte Schnee und darunter verborgene kleine Zweige fort, bis er die hart gefrorene Erde freigelegt hatte. Dann schichtete er einen Teil des mitgebrachten Holzes auf, riss die Rinde herunter, stopfte sie unter die Zweige und zog schließlich einen Feuerstein aus seiner Gürteltasche, mit dem er an der Klinge
seines Dolches Funken schlug. Kurze Zeit später verbreitete ein kleines Feuer ein wenig Wärme.
Als er bemerkte, dass Cassim immer noch angespannt in das Schneetreiben hinausstarrte und bei jedem Geräusch erschauerte, rutschte er neben sie.
»Die Wölfe werden uns nichts tun«, versuchte er, sie zu beruhigen. Jornas wandte sich im Schlaf den Flammen zu, ohne dass sein Schnarchen stockte.
»Warum heulen sie so schrecklich?«
»Sie rufen einander zur Jagd.« Ihr erschrockener Blick entlockte ihm ein flüchtiges Grinsen. »Nicht auf uns. Es sind nur Grauwölfe. Die Stimmen von Firnwölfen sind dunkler und tragen weiter. – Auf einer Lichtung ein Stück von hier steht ein Rudel Maunhirsche. Hinter ihnen sind sie her.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe sie gesehen. Beinah wäre ich den Wölfen in ihre Hatz hineingelaufen.« Er löste etwas von seinem Gürtel, und Cassim erkannte das Tuch, in dem Jornas das Zernamehlbrot eingeschlagen hatte.
»Da das Wolfsrudel auf der Jagd ist, hat sich alles, was einen Bau hat, darin verkrochen. Wir werden uns hiermit begnügen müssen.«
»Was ist das?« Sie beäugte die roten Knollen.
»Travin-Wurzeln. Im Feuer geröstet, schmecken sie eigentlich ganz gut.« Er packte die dicken, um sich selbst gewundenen Dinger so dicht an die Flammen, wie es ging, dann griff er in seine Gürteltasche. »Und ich habe das hier gesucht.« Graugelbe, längliche Blätter lagen auf seiner offenen Handfläche. Cassim zog die Nase kraus, was jenes Grinsen um seinen Mund zucken ließ. »Willst du oder soll ich wieder?«, erkundigte er sich scheinbar harmlos.
Wortlos nahm sie die Blätter und steckte sie in den Mund. Der Geschmack traf sie vollkommen unvorbereitet. Muffig und zugleich beißend süßlich, wie halb vergammelte Früchte. Angewidert
verzog sie das Gesicht. Das Grinsen vertiefte sich. Wieder glaubte sie, dieses boshafte Glitzern in seinen Augen zu sehen. Sie schob seine Hände fort, als er ihr helfen wollte, das Hosenbein aus dem Stiefel zu ziehen, und war geradezu erleichtert, als er ihr schließlich bedeutete, dass sie lange genug auf den Blättern gekaut hatte. Wie sie bei ihm gesehen hatte, spuckte sie den ekelhaften Brei auf ihre Hände und verteilte ihn auf ihrem Knie. Sie hatte sich innerlich auf die gleiche eisige Kälte eingestellt, doch ganz im Gegenteil fühlte es sich dieses Mal beinah angenehm warm an. Als Morgwen ihr aber auch jetzt wieder Schnee um das geschwollene Gelenk packte, war die Wärme dahin. Er achtete nicht auf ihr Schaudern, sondern reichte ihr ungerührt eine der gerösteten Wurzeln und zeigte ihr, wie man die hart gewordene Haut am geschicktesten aufbrach. Schließlich kehrte er auf die andere Seite des Feuers zurück, wo er sich selbst ein Stück Wurzel nahm und gekonnt schälte. Die Haut warf er in die Flammen, wo sie mit einem schwach nussigen Geruch verbrannte. Zu Cassims Erstaunen war das leicht rötliche Innere weich und schmeckte ausgesprochen gut. Als sie sich einige Zeit später neben dem Feuer in den Mantel kuschelte, hatte der Schmerz in ihrem Knie weiter nachgelassen. Das Letzte, was sie hörte, bevor sie einschlief, war das leise Knistern der Flammen, das unter Jornas’ gurgelndem Schnarchen beinah unterging.
Am Morgen hatte es aufgehört zu schneien. Grau und schwer hing der Himmel über ihnen, als sie nach einem kargen Frühstück aus geschmolzenem Schnee und den kalten Überresten der Travin-Wurzeln aufbrachen. Sie kamen nur schleppend voran. Der weiße Teppich lag beinah kniehoch und machte jeden Schritt doppelt beschwerlich. Dennoch nahm Morgwen Cassim
wortlos auf den Rücken und trug sie Stunde um Stunde vorwärts, während Jornas hinterherstapfte.
Es war bereits nach Mittag, als sie diesmal das Heulen hörten. Ein Schauder rann über Cassims Rücken. Der Laut war um einiges dunkler als der Gesang der Grauwölfe. Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit wagten sie es, im Schutz eines Dickichts haltzumachen. In dieser Nacht wärmte sie kein Feuer und Cassim schlief zum ersten Mal
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