Der Spiegel von Feuer und Eis
unter einer Decke aus Schnee. In ihrem Magen wühlte Hunger.
Kaum dass die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont krochen, trieb Jornas sie am nächsten Tag wieder auf die Beine. Erneut ging es bis in den Mittag hinein vorwärts-ohne dass sie das dunkle Heulen noch einmal gehört hätten. Jetzt erst gönnte der Faun ihnen im Schutz eines Felsüberhanges eine Rast und Morgwen verschwand für einige Zeit. Er kam mit zwei mageren Hasen und einigen Travin-Wurzeln zurück. Doch Jornas ließ sie kaum länger ausruhen, als seine Beute benötigte, um über einem kleinen Feuer gar zu werden. Dann nötigte er Morgwen schon wieder dazu, Cassim auf den Rücken zu nehmen und sie bis in die Nacht hinein weiterzuführen.
Auch die nächsten beiden Tage folgten diesem Muster. Jornas’ Schritte wurden langsamer, Cassim war erschöpft und müde. In den Nächten wurde sie von Albträumen geplagt, in denen riesige weiße Wölfe sie durch einen verschneiten Wald hetzten. Und auch Morgwen blieb immer wieder stehen, um Atem zu schöpfen. Erst als sie das dunkle, lang gezogene Heulen über zwei Tage nicht mehr vernommen hatten, wagten sie zu hoffen, dass sie ihren Verfolgern entkommen waren.
Am dritten Tag erlaubte Morgwen Cassim endlich, ein Stück selbst zu gehen. Obwohl sie ihretwegen häufiger kurze Pausen einlegen mussten, kamen sie gut voran. Wenn er merkte, dass sie müde wurde oder ihr Knie zu schmerzen begann, nahm Morgwen sie wortlos wieder auf den Rücken.
Es war am vierten Tag, kurz nach Mittag, als er unvermittelt
innehielt und sich wachsam und angespannt umsah. Der Wald hatte sich gelichtet und ein scharfer Wind strich zwischen den Bäumen hindurch. An einigen Stellen hatte er den Schnee zu hohen Wehen aufgetürmt, an anderen die gefrorene Erde freigelegt.
Cassim, die neben Morgwen ging, blickte ihn verwundert an. »Was ist?«
Seine erhobene Hand gebot ihr zu schweigen. Hinter ihr kam Jornas leise murrend ebenfalls zum Stehen.
»Menschen. – Menschen und …« Er verstummte, sog langsam die eisige Luft ein. Zwischen seinen Brauen erschien eine steile Falte.
»Was?« Unruhig schaute sie sich um.
Sie erhielt keine Antwort. Stattdessen verschwand er mit einem knappen »Wartet hier!« zwischen den Bäumen.
Jornas trat neben sie und verzog ärgerlich das Gesicht. »Der Kerl ist eine Plage. Ihr hättet mir erlauben sollen, den stärkeren Bann auf ihm zu lassen.«
Bei seinen Worten ballte Cassim die Fäuste. »Es ist schon schlimm genug, dass Ihr ihn mit diesem Zauber zwingt, bei uns zu bleiben.«
»Ihr glaubt immer noch, dass er uns freiwillig geführt hätte? – Und dass er nicht die erste Gelegenheit genutzt hätte, uns an die Eiskönigin oder ihren Sohn zu verraten?«
Entschieden nickte Cassim, was dem Faun ein müdes Seufzen entlockte.
»Ihr habt ein zu freundliches und argloses Herz.« Fröstelnd zog er die Schultern hoch. ›Wartet hier!‹ – Anmaßender Kerl. Was glaubt er, wer er ist, uns Befehle erteilen zu können. – Lasst uns ein Stück weitergehen. Da vorne wachsen Büsche. In ihrem Windschatten wird es etwas angenehmer sein.« Er nahm sie bei der Hand und zog sie hinter sich her, geradewegs auf das Unterholz zu. Der Schnee lag mehr als knöchelhoch und knarrte bei jedem Schritt. Plötzlich war ein metallisches
Knirschen unter Cassims Fuß. Sie glaubte zu hören, wie etwas aufschnappte, und erstarrte. Verwirrt drehte Jornas sich zu ihr um.
»Was …?«, setzte er an.
»Nicht bewegen!«, erklang beinah im selben Augenblick Morgwens Stimme ein kleines Stück hinter ihr. Erleichtert wollte sie sich umwenden, doch sein scharfes »Nein!« ließ sie erschrocken innehalten. »Nicht bewegen!«, wiederholte er eindringlich. Die Worte klangen dieses Mal, als stünde er ganz dicht bei ihr. »Lass deinen Fuß genau dort, wo er ist. Du darfst auch dein Gewicht nicht verlagern. Steh einfach nur still, Flammenkatze!«
»Was zum …« Jornas hatte sie losgelassen.
»Frostfeuer, Faun! Wenn ich das nächste Mal sage, ihr sollt warten, dann tut das auch! Und zwar genau dort, wo ich es sage.« Wachsam kniete er sich neben Cassim in den Schnee. Sie wagte einen Blick auf das, was er tat. Mit äußerster Vorsicht wischte er um ihren Fuß herum das Weiß fort und legte ein aufgerissenes eisernes Maul frei, in dessen Mitte ihr Fuß stand. Sie wankte, glaubte zu spüren, wie sich etwas schabend ein Stück weit bewegte. Morgwens Hände schossen vor, stemmten sich gegen die Wucht der zuschnappenden stählernen Fänge. Sie
Weitere Kostenlose Bücher