Der Spiegel von Feuer und Eis
sie ihn noch einmal prüfend ansah, begegnete sie seinen Augen. Etwas glitzerte darin. Doch ein Blinzeln, und es war verschwunden, ohne dass sie hätte sagen können, was sie zu sehen geglaubt hatte. Zu ihrer Erleichterung verzichtete Morgwen darauf, sich das verletzte Gelenk erneut anzusehen. Stattdessen erwiderte er knapp ihr Lächeln, schaute zu Jornas, der gerade murrend seine Habseligkeiten in den Beutel packte, und sank dann wie am vergangenen Tag neben Cassim auf ein Knie.
»Lass uns gehen, Flammenkatze.«
»Aber du kannst mich nicht die ganze Zeit tragen.«
Sie wurde mit einem amüsierten Blick bedacht. »Die ganze Zeit vielleicht nicht. Aber einen guten Teil davon. Außerdem solltest du in ein paar Tagen auch wieder kurze Strecken laufen können. – Jetzt komm! Der Schnee wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und die Firnwölfe werden ihre Jagd heute Nacht kaum unterbrochen haben.«
Bei dem Gedanken an die mächtigen weißen Wolfsbestien rann ein Zittern durch Cassims Glieder und sie schlang rasch die Arme um Morgwens Hals. Seine Hände waren eisig, als er sie mit der gleichen Mühelosigkeit wie tags zuvor auf seinen Rücken hob. Auch sein Körper fühlte sich selbst durch ihre Kleider hindurch entsetzlich kalt an, und sie beeilte sich, den Mantel wieder um sie beide zu hüllen. Er schaute noch einmal zu Jornas hin, der inzwischen auch zum Aufbruch bereit war, und marschierte los.
Nebel hing noch immer zwischen den Bäumen. Seine kalte Feuchtigkeit legte sich klamm auf Haut und Kleider, überzog Haare und Brauen mit einer Schicht aus Reif. Der Schnee knirschte unter Morgwens Schritten. Wann immer sie im Vorbeigehen einen der weiß behangenen Äste streiften, rieselten glitzernde Kaskaden zu Boden. Mehr als einmal schrie Jornas empört auf, wenn er einem solchen Sturzbach wieder nicht ausweichen konnte.
Morgwens Vorhersage bewahrheitete sich rasch. Es waren gerade eine, höchstens zwei Stunden vergangen, als es zu schneien begann. Zuerst war es kaum mehr als feiner weißer Staub, der in der Luft hing. Bald jedoch wurden dicke, schwere Flocken daraus, die sich wie eine kalte Decke über alles legten. Zuweilen verirrten sie sich auch unter den Mantel und in den Kragen von Cassims Hemd. Dann schmolzen sie auf ihrer Haut und sickerten als eisige Rinnsale über ihren Nacken ihren Rücken abwärts.
Um die Mittagszeit wurde das Schneetreiben so stark, dass sie unter den mächtigen Ästen eines knorrigen alten Baumes Schutz suchten. Schweigend kauerten sie dicht beieinander und beobachteten den beängstigend schönen Tanz der weißen Flocken, die alles unter sich begruben und ihre Spuren auslöschten.
Cassim schreckte aus einem unruhigen Dahindämmern auf. In ihrem Traum hatte ein Rudel Firnwölfe sie eingekreist und trieb sie unerbittlich auf einen tödlichen Abgrund zu. Ihr Ruf hatte ihr Schauer über den Rücken gejagt … Wieder erklang ein Heulen. Abrupt richtete sie sich auf. Schnee rieselte von ihrem Mantel. Eine andere Stimme antwortete ganz in der Nähe. Hatte sie die schauerlichen Laute gar nicht geträumt? Neben ihr lag
Jornas, unter seinem Umhang zusammengerollt, den Kopf auf seinem Beutel, und schnarchte ungerührt. Morgwen war nicht da. Erschrocken blickte sie sich um. Er musste schon eine ganze Weile fort sein, da der Schnee seine Spuren bereits wieder zugedeckt hatte. Zwischen den Bäumen nisteten fahle Schatten. Es schneite noch immer. Abermals erklang das Heulen. Ein ganzer Chor fiel in den unheimlichen Gesang ein. In der Nähe raschelte es, dann ein Knacken. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, lauschte. Da war nur das leise Zischen, mit dem die Schneeflocken den Boden berührten. Beinah hätte sie aufgeschrien, als Morgwen unvermittelt aus dem Weiß auftauchte. Für einen kurzen Moment stockten seine Schritte, dann duckte er sich in den Schutz der Äste. Schnee lag auf seinen Schultern und hing in seinen Haaren. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, ließ er ein Bündel Zweige auf den Boden gleiten.
»Was ist?«
»Wo warst du?«
Er sah von ihr zu den Zweigen. »Holz suchen, damit wir heute Nacht nicht erfrieren. – Es ist sinnlos, jetzt noch weitergehen zu wollen.«
Cassim spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen kroch. »Ich … Es tut mir leid.«
Etwas in seinem Blick veränderte sich. »Was? Dass du geglaubt hast, ich würde einfach gehen?«
Nein, dass Jornas dir das angetan hat und du es noch nicht einmal weißt. Sie biss sich auf die Lippe.
Wieder hoben die Wölfe
Weitere Kostenlose Bücher