Der Spiegel von Feuer und Eis
mit ihm? Erneut schaute sie zu ihm hinüber.
»Wie wirst du heute Nacht …«
Er blickte auf und nickte kurz, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Mach dir um mich keine Sorgen. Das Feuer reicht mir. – Schlaf.«
Seltsam erleichtert schmiegte sie sich erneut in den weichen Pelz und war gleich darauf tatsächlich eingeschlafen.
Mitten in der Nacht schreckte ein gespenstisches Heulen Cassim auf. Jornas umklammerte auf der anderen Seite des Feuers schnarchend seinen Beutel und schien nichts gehört zu haben. Doch Morgwen saß neben den Flammen und lauschte in die Dunkelheit. Als er merkte, dass sie wach war, schüttelte er beruhigend den Kopf.
»Keine Angst. Es ist nur ein alter Grauwolf. Er ist hungrig, aber er ist zu schlau, um hierherzukommen und sich das Fell am Feuer zu verbrennen.«
»Woher weißt du das?« Staunend blickte sie ihn an.
»Ich kann es hören. – Außerdem klingt das Geheul der Firnwölfe anders. – Schlaf weiter. In drei Stunden wird es hell, dann sollten wir weitergehen.«
Einen Moment musterte sie ihn, dann tat sie, was er gesagt hatte.
Als Cassim am Morgen erwachte, hing dichter Nebel zwischen den Bäumen. Zweige und Stämme waren mit einem weißen Flaum überzogen. Morgwen schlief neben dem nur noch schwach glimmenden Feuer. Raureif glitzerte in seinen Wimpern
und Brauen und überzog seine wirre schwarze Mähne mit blitzenden Kristallen. Im Schlaf wirkte er jünger und seine Züge waren weicher. Wie alt mag er wohl sein? Sie betrachtete sein Gesicht. Es war zu edel und fein geschnitten, um lediglich als gut aussehend bezeichnet zu werden. Er war schön. Ein anderes Wort wollte ihr nicht einfallen, auch wenn ihr sehr wohl bewusst war, dass man es gewöhnlich nicht benutzte, wenn man von einem Mann sprach. In seinen Zügen konnte sie nichts von jener durchscheinenden, kalten Aristokratie der Eisdryaden entdecken. Da war etwas anderes. Etwas, das in ihr den verrückten Wunsch weckte, ihn einfach nur weiter im Schlaf zu betrachten.
Eine kleine Lawine, die sich aus den weiß bedeckten Zweigen über ihm löste und direkt auf Morgwens Gesicht rieselte, setzte dem ein Ende. Von einem Atemzug auf den anderen war er wach.
»Guten Morgen.« Sie beobachtete, wie er sich aufsetzte, den Schnee abschüttelte und sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht strich. Eine Antwort erhielt sie nicht, stattdessen wurde sie mit einem Blick aus dem Augenwinkel unter leicht gehobenen Brauen heraus bedacht. Beinah hätte sie losgelacht. Er gehörte offenbar zur selben Sorte Mann wie ihr Vater: Man durfte sie am Morgen nicht ansprechen, bevor sie nicht einen Becher starken Tee oder warmes Würzbier getrunken hatten. Und wenn man etwas von ihnen wollte, wartete man am allerbesten ab, bis sie ihr Frühstück verzehrt hatten.
Auf der anderen Seite des Feuers tat Jornas einen gurgelnden Schnarcher und beide blickten wie auf ein stummes Kommando zu dem Faun hinüber. Ein leises, bedrohliches Knurren kam aus Morgwens Kehle, dann fuhr er sich noch einmal mit den Fingern durch seine zerzauste Mähne und machte sich daran, das Feuer neu anzufachen.
Cassim setzte sich ihrerseits auf. Zu ihrem Erstaunen zeigte Morgwens widerliche Behandlung bereits erste Erfolge. Der
Schmerz war sogar fast erträglich. Vorsichtig rutschte sie ein Stück näher an die Flammen heran und streckte ihre Hände der Wärme entgegen, während sie zusah, wie Morgwen die flachen Steine beiseiteräumte, die er am Abend zuvor an den Rand der Feuergrube und um die Reste ihres Mahls gelegt hatte. Die verbliebene Glut hatte verhindert, dass das Fleisch in der Nacht gefror, und die Steine hatten es vor der Asche geschützt. Er reichte ihr die letzte Hasenkeule, dann kratzte er etwas sauberen Schnee in den Tonbecher und stellte ihn zum Schmelzen neben die allmählich wieder höher züngelnden Flammen.
Irgendwann erwachte auch Jornas und setzte sich sichtlich verschlafen auf. Im Gegensatz zu Morgwen benötigte er mehrere Augenblicke, um richtig zu sich zu kommen. Doch dann begrüßte er Cassim mit einem wohlgelaunten »Guten Morgen«. Für Morgwen hatte er nicht mehr als ein knappes Nicken, auf das er nur einen Blick und ein Brummen als Antwort erhielt.
»Wie habt Ihr geschlafen, Cassim?« Jornas rückte näher zum Feuer, griff sich ein Stück Hase und begann zu essen.
»Gut, danke.« Sie schluckte den Bissen, an dem sie gerade kaute, hinunter. »Wie weit ist es bis nach Jarlaith?«
»Jarlaith?« Überrascht sah Morgwen sie an. »Ich dachte,
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