Der Spiegel von Feuer und Eis
Geld hätten wir mindestens drei Sack Getreide kaufen können.« Mit einem leisen Seufzen strich sie über den Stoff. »Allerdings können wir den Handel nicht ganz erfüllen. Sie werden uns jetzt kaum mehr als die Hälfte zahlen.«
»Warum? Hatten die Schafe nicht genügend Wolle?«
»Nein!« Maíre sah auf. »Das Tuch hätte gut und gerne für vier oder fünf weitere Mäntel gereicht. – Aber zu dem Auftrag gehörten nicht nur die Mäntel, sondern auch passende Fibeln.
Labras’ Bruder hätte sie fertigen sollen.« Abermals seufzte sie leise. »Er hat sich bei einem Jagdunfall die Hand gebrochen; danach sind seine Finger so steif geblieben, dass er noch nicht einmal mehr das Schnitzmesser halten kann.« Ein trauriges Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Du hättest sehen sollen, was er für wunderschöne Dinge schaffen konnte.« Energisch machte sie sich an das Umnähen des Saums, während Cassim den warmen, schweren Stoff betrachtete.
Die Kälte trug seine Witterung in die Höhle. Die beiden großen Weißen hoben die Köpfe. Auch die alte Wölfin blickte auf. Ihre Welpen schenkten den Alten keine Beachtung. Einer tapste noch immer nach der Rutenspitze des Rüden, die er sich für den Moment als Spielzeug auserkoren hatte. Die anderen beiden zerrten unter hellem Knurren an den Enden eines blank genagten Knochens. Einer kläffte, verlor den Halt und purzelte hintüber – und landete direkt vor den Pfoten des weißen Leitwolfs. Die Wölfin winselte. Der Weiße mit dem schwarzen Aalstrich senkte den Kopf, beschnupperte den Welpen, stupste ihn an. Der floh mit einem Fiepen in den Schutz seiner Mutter. Die Wölfin leckte ihrem Sohn die Ohren. Die drei großen Weißen würden ihr und ihren Jungen nichts tun. Die Rüden hatten für sie gejagt und ihr Fleisch gebracht. Die weiße Wölfin hatte ihre Welpen gesäugt, bis sie selbst wieder Milch für sie hatte. Sie tat es immer noch, weil sie noch nicht genug hatte, damit ihre Söhne stark werden konnten.
Ihr zweiter Sohn war auf den Rücken des kleineren der weißen Rüden geklettert. Der schüttelte ihn ab, stand auf und ging zu dem weißen mit dem Aalstrich hin. Leise winselnd leckte er ihm die Lefzen, seine Rute fuhr leicht über den Boden. Ihre Blicke begegneten sich, ruhten ineinander. Dann strich der kleinere
der Rüden an dem mit dem Aalstrich vorbei und verließ die Höhle.
Der große Weiße schritt zu der anderen Wölfin, wurde von ihr ebenfalls begrüßt. Er drückte seine Nase in ihr Fell und schnaufte hinein. Sie schloss wohlig die Augen. Ob er der Vater ihrer Welpen war? Die weiße Wölfin musste Junge haben. Sonst hätte sie keine Milch. Wo waren diese Welpen?
Jetzt kam er zu ihr herüber. Ihre Welpen drängten sich zitternd an sie. Sie winselte, leckte ihm die Lefzen. An seinem Fell hing der Geruch von anderen großen Weißen. Sein Rudel. Wenn die drei weiterzogen, würden sie und ihre Jungen sterben. Ihr Bein heilte. Aber sie würde nie wieder jagen können. Sie winselte leise. Seine Nase drückte sich an die empfindliche Stelle hinter ihrem Ohr. Ein tiefes Schnaufen. Wärme strich über sie hinweg. Er stupste sie an. Langsam trottete er um sie herum. Seine buschige Rute fuhr über die Gesichter ihrer Welpen. Sie niesten. Dort, wo der andere Rüde die ganze Zeit gelegen hatte, streckte er sich auf dem Boden aus. Mit aufgerichteten Ohren sah er zu ihr und den Jungen, dann ließ er sich auf die Seite sinken. Ihre Welpen fiepten. Doch schließlich löste sich der vorwitzigste der drei von ihrer Seite. Mit steil aufgerichteter Rute pirschte er sich an die mächtigen weißen Pfoten heran.
Geräusche drangen zu ihr, wie aus weiter Ferne. Zuweilen war da das Heulen der Firnwölfe, die sie über den zugefrorenen See hetzten. Oder das Gurgeln von Wasser, das über ihrem Kopf gegen eine Decke aus Eis schlug. Dann glaubte sie, Stimmen zu hören. Stimmen, die miteinander stritten. Jornas, der argumentierte und bat; Morgwen mit gefährlichem Zorn; Männer, die sie nicht kannte und deren Worte drohend klangen. Schritte,
das Zuschlagen von Türen, und dazwischen immer wieder das Heulen der Firnwölfe.
»Aufwachen! Wacht auf, Cassim.« Eine Stimme ganz in der Nähe zerrte sie aus der wohligen Wärme des Schlafes. Sie blinzelte, erkannte Jornas, der neben ihrem Bett kniete. Wie das Fleisch gewordene drohende Unheil stand Morgwen hinter ihm. Wieder ganz in weißes Leder gekleidet, die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtete er den Faun mit einem Ausdruck, als
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