Der Spiegel von Feuer und Eis
Haar, hingen in Wimpern und Brauen. Purer Übermut blitzte in den hellblauen Tiefen seiner Augen. »Noch mal?«
Cassim schnappte nach Luft. »Du … Du bist verrückt!«, brach es aus ihr heraus. Ihre Faust traf seine Brust. Morgwen zog sie zu sich in den Schnee, schlang die Arme um sie und lachte nur noch lauter.
Erst als auf sie zukullernde Eisbrocken und Schritte, die von einem unüberhörbaren Murren begleitet wurden, Jornas ankündigten, schaffte Cassim es, sich von Morgwens Brust zu befreien. Es grenzte beinah an ein Wunder, dass der Faun nicht mit in die Tiefe gerissen worden war, als sie versehentlich die Firnwechte losgetreten hatte. Zumindest hatte ihnen die Schlitterpartie einen anstrengenden Abstieg erspart, denn der Schnee hatte sie das letzte Stück des Abhangs hinuntergetragen. Sie hatten das Tal von Temair endgültig erreicht. Vor ihnen erstreckte sich die weiße Ebene, auf der in der Ferne das helle Gleißen der Eismoräne auszumachen war.
Als sie nach zwei Stunden schließlich die Brücke nach Jarlaith erreichten, war der Himmel ein Farbenspiel aus Kupfer und Feuer. Die ganz in Rot und Gold gekleideten Krieger der Stadtwache Jarlaiths ließen Cassim, Jornas und Morgwen passieren, ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken. Ihre Aufmerksamkeit galt Fuhrwerken und Händlern, die in der Stadt ihren Geschäften nachgehen wollten und deshalb Zoll zu zahlen hatten.
Von dem Augenblick an, als Cassim den Fuß auf die goldene Brücke setzte und durch den Schlund des Gletschertores schritt, schien es ihr, als hätte sie eine andere Welt betreten. Alles um sie her war mit einer dicken Eiskruste überzogen, die jedoch so klar war, dass man mühelos erkennen konnte, was sich unter ihr verbarg. Die Brücke, über die sie inmitten anderer Reisender gingen, war nicht aus Gold, aber aus mächtigen goldfarbenen Steinquadern, in denen dunkle Adern schimmerten. Das Geländer war mit einem kunstvollen Relief verziert,
und seltsam anmutende Brückenfiguren lösten sich mit kupfernen Becken ab, in denen hoch auflodernde Ölfeuer brannten. In regelmäßigen Abständen reckten sich elegant geschwungene Brückentürme gegen die glänzende Gletscherkuppel weit über ihren Köpfen. Ein stetiges Gurgeln, Rauschen und Plätschern verkündeten, dass der Fluss, über den diese Brücke ursprünglich einmal gebaut worden war, unter der dicken Schicht aus Eis, die ihn unter sich gefangen hielt, noch immer in seinem Bett dahinströmte. Die Wände der Moräne, die sich hoch über ihnen in einem perfekten Bogen wölbten, waren vollkommen glatt und wurden von den Flammen in den Kupferbecken in spiegelndes Gold verwandelt. Die Luft war hier so kalt, dass ihr Atem noch auf ihren Lippen zu gefrieren schien.
Dann passierten sie den letzten Brückenturm, und eine gigantische Gletscherhöhle öffnete sich vor ihnen, in der Jarlaith die Spitzen seiner Zinnen majestätisch gegen seinen eisigen Kerker reckte. Und auch hier war alles mit einer Schicht aus vollkommen klarem Eis bedeckt. Ihr undurchdringlicher Panzer aus Kälte ließ die aus dem gleichen goldenen Stein erbauten Mauern der Stadt schimmern und glitzern.
Wie es schien, war Jarlaith ursprünglich auf einer Insel errichtet worden, um die sich die beiden Arme eines Flusses geschmiegt hatten. Sanft stiegen eisüberkrustete Straßen und Treppen zu ihrer Mitte hin an. Häuser mit steilen, weiß bestäubten Dächern drängten sich aneinander, als versuchten sie, sich gegenseitig zu wärmen. In ihrer Mitte erhob sich gleißend und funkelnd wie ein Firndiamant der Palast von Jarlaith. Auf seinen Zinnen waren rote und goldene Banner im Eis erstarrt. Ein herrlicher Vogel, dessen Gefieder aus Flammen zu bestehen schien, breitete auf ihnen seine mächtigen Schwingen aus, als wolle er sich im nächsten Moment mit einem wilden Schrei in die Luft erheben.
Doch während die eine Hälfte der Stadt erleuchtet war und voller Leben zu sein schien, war die andere dunkel und still.
Hier bedeckte das Eis nicht nur Mauern und Straßen. Hier hatte es Häuser vollständig verschlungen und erlaubte denen, die sich in diese Gassen verirrten, dennoch einen Blick durch ihre Fenster in ihr erfrorenes Inneres. Hier hatte es Brunnen und ihre Fontänen in unwirkliche Skulpturen verwandelt. Von glitzernden Stalaktiten gezierte Eisbögen spannten sich zwischen den Dächern, spiegelten sich auf dem klar verkrusteten Boden der Straßen. Schnee, der zuweilen durch Spalten in der Gletscherdecke herabfiel, hatte sich in
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