Der Spiegel von Feuer und Eis
wagte. Träge begann sich das Seil aufzufasern. Nicht schnell genug! Erde und Feuer!
»Jornas! Feuer!« Ihre Stimme überschlug sich. Eine kleine Ewigkeit starrte der Faun sie verständnislos an, bevor er begriff, was sie von ihm wollte. Umständlich kam er auf die Beine. Ein Wort, eine Berührung, und Flammen loderten über die Brückenseile, leckten nach dem Holz. Knallend barsten die oberen Taue. Mit einem lauten Schrei, der wohl noch auf der anderen
Seite der Schlucht zu hören sein musste, wich Morgwen hastig zurück. Das Heulen der Wölfe antwortete ihm. Das nächste Tau riss, die Brücke kippte, stürzte in die Tiefe, als auch das letzte Seil nachgab, und schlug mit ohrenbetäubendem Krachen gegen die gegenüberliegende Wand der Schlucht. Wieder hoben die Wölfe ihre Stimmen. Dieses Mal glaubte Cassim, Wut in ihnen zu hören.
Mitten in der Nacht schreckte Cassim auf, ohne zu wissen, was sie geweckt hatte. Müde rieb sie sich die Augen. Das Feuer leckte über ein paar Äste. Sein schwacher rötlicher Schein zitterte über die Felsen. Jornas gurgelte, in seine Decke gewickelt, im Schlaf vor sich hin. Morgwen war fort. Beunruhigt setzte sie sich endgültig auf, stieß dann aber erleichtert den Atem aus.
Er stand am Rand des Simses, auf dem sie im Schutz eines Felsvorsprunges die Nacht verbrachten. Den Rücken zum Feuer, starrte er in die Dunkelheit hinaus. Kalter Wind zerrte an seinem Haar. Schneeflocken wirbelten in einem wilden Tanz um ihn herum. Der Mantel lag vergessen am Boden. Hinter seiner schlanken Gestalt wob sich ein schillerndes Band aus Licht über den Nachthimmel. Fasziniert stand Cassim auf, wickelte sich in ihren Umhang und trat neben ihn.
»Du solltest schlafen. Der Abstieg morgen wird hart«, sagte er unvermittelt, ohne sich umzudrehen.
»Was ist das?« In ihrer Stimme klang Staunen.
»Nordfeuer! – Hast du es noch nie gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. – Wie entsteht es?«
»Das weiß niemand. – Zuweilen machen sich ein paar Narren auf, um seinen Ursprung zu finden. Sie kehren nie zurück.« Cassim glaubte, ein spöttisches Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, als er sie doch einen kurzen Moment anblickte. »Eine alte Legende sagt, dass weit jenseits von allem, was wir kennen, seit unendlichen Zeiten ein riesiger, uralter Drache liegt und schläft. Seine Schuppen sind aus so makellosem Eis, dass selbst die kleinste Flamme auf ihnen gleißt, als sei sie ein Meer aus Feuer. In manchen Nächten fällt das Funkeln der Sterne auf diese Schuppen und sie werfen es in der Dunkelheit als Band aus Licht an den Himmel zurück. Und dort erhellt es als Nordfeuer die Nacht.«
»Es ist wunderschön.« Ehrfurcht lag in Cassims Worten.
Neben ihr nickte Morgwen schweigend. Eine kalte Böe wehte ihm das Haar ins Gesicht und ließ Cassim trotz ihres Mantels frösteln.
»Dir ist kalt!« Langsam wandte er sich zu ihr um. In den Tiefen seiner Augen war ein Glitzern. Die Flammen malten Schatten auf seine Züge. Ohne sie zu berühren, fuhr seine Hand mit gespreizten Fingern über ihr Gesicht.
»Geh zum Feuer zurück und leg dich wieder schlafen.«
Cassim nickte, konnte kaum ein Gähnen unterdrücken, zog den Umhang fester um sich und tappte zurück in den Schutz des Felsvorsprungs, wo sie sich wieder zusammenkauerte und wenig später tatsächlich abermals fest eingeschlafen war.
Teil II
Erfrorene Stadt
»Dort liegt Jarlaith.«
Als Morgwen auf dem Kamm eines steilen Abhangs stehen blieb und nach Süden wies, hatte die Sonne den Zenit schon um mehr als die Hälfte des Horizontbogens überschritten. Erschöpft ließ Cassim sich in den Schnee fallen.
In den vergangenen Tagen hatte ihre Welt aus gleißendem Weiß bestanden, auf dem Wolken und Sonne Schattenbilder malten und Farbenspiele in Gold, Feuer und tiefem Blau zauberten.
Es war durch unwegsame Winterwälder gegangen, deren Äste sich unter ihrer weißen Last bis auf den schneebedeckten Boden bogen. Zuweilen hatten scharfe Böen fast mannshohe Wehen aufgetürmt und den Untergrund freigelegt, der immer öfter aus mit Eis überzogenem Geröll bestand. Morgwen hatte sie durch kaltfeuchten Nebel in Höhen geführt, in denen die Luft so dünn war, dass das Atmen schmerzte. Mehr als einmal hatten sie über eine glitzernde Wolkendecke geblickt, die von dem Licht der versinkenden Sonne mit Flammen überzogen wurde und aus der schroffe Berggipfel emporragten. Manche waren mit blendendem Weiß bedeckt gewesen, andere von rotem Gold
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