Der Spiegel von Feuer und Eis
irgendwie zu packen bekommen und versuchten, ihn aus dem Raum zu schleppen. Mit einem gellenden Schrei sprang Cassim auf, stürzte sich auf den Kerl, der ihr am nächsten war. Ein Rückhandschlag traf sie im Gesicht, beförderte sie zu Boden. Halb benommen versuchte sie unbeholfen hochzukommen, sah, wie Morgwen sich im Griff der Männer aufbäumte, gegen den Kerl zu seiner Linken warf. Der Knauf eines Dolches blinkte. Ein Schlag, Morgwen sackte in den Fäusten der Männer zusammen und wurde aus dem Raum geschleift. Stiefel polterten die Treppe hinunter, noch einmal ein Krachen, das Geräusch von Hufen, dann war es bis auf ihre eigenen Atemzüge und Jornas’ Stöhnen still. Mühsam kam sie auf die Füße, taumelte gegen die Wand. Eiskristalle glitzerten auf den Überresten von Tisch und Bank. Ein Pelz aus Reif wuchs auf den zerwühlten Decken von Morgwens Lager. Die Eiskruste brannte kalt unter ihren nackten Sohlen. Sie beachtete es nicht, kämpfte sich noch immer seltsam unsicher auf den Beinen auf den Gang hinaus und die Treppe hinunter. Der Wirt stand nur im Hemd in der Schankstube und starrte auf seine Tür, die schief in ihren Angeln hing. Der
schwere Balken, mit dem er sie gesichert hatte, lag gesplittert auf dem Boden.
Cassim hastete auf die Straße hinaus, eilig wurde bei einem Nachbarhaus ein Laden geschlossen. Sie kam zu spät. Von den Fremden war nichts mehr zu sehen. Zitternd stieß sie den Atem aus. Allmählich ließ das Entsetzen nach und ihr Verstand setzte wieder ein. Sie haben ihn gesucht! Sie wollten nur ihn! Sie schluckte hart. Warum?
Kälte biss in ihre bloßen Füße, kroch ihre Beine empor und zwang sie zurück in die Schankstube. Der Wirt stand noch immer am gleichen Fleck und starrte benommen vor sich hin. Sein Mund bewegte sich unablässig, ohne dass er eine vernünftige Silbe zustande brachte. Cassim packte ihn an den Hemdaufschlägen und zerrte daran, bis er sie ansah.
»Wer waren diese Kerle? Wo haben sie ihn hingebracht?«
Sein Blick irrte zur Tür. Cassim schüttelte ihn. Auf der Treppe glotzten Jornas und der junge Kaufmann.
»Ihr wisst es! Sagt es mir! – Wohin haben sie ihn gebracht? Was wollen sie von ihm?«
Die Augen des Wirtes kehrten zu ihr zurück. Fahrig machte er sich von ihr los und sank auf den nächsten Schemel. »Die Jagd! – Sie haben ihn für die Jagd geholt«, murmelte er erschüttert.
»Was?« Cassim beugte sich vor.
Ganz langsam wandte er den Kopf, sah sie an. »Das waren Prinz Kaylens Männer. Sie haben Euren Freund für die Jagd geholt. – Ihr werdet ihn nie wiedersehen.«
Fassungslos starrte Cassim auf ihn hinab.
Er duckte sich, winselte. Das Weinen und Schreien der Jungen klang qualvoll in seinen Ohren. Hände, die ihn aus dem Bett zerren. Ailis Schreie, Lunns Weinen. »Erbarmen! – Kavan! Kavan,
nein!« Vor dem Schlitten der Eiskönigin stampften drei herrliche Einhörner mit ihren gespaltenen Hufen den Schnee und senkten ihre perlmuttschimmernden Hörner. Ihre blauen Augen blickten kalt auf ihn hinab. Ein Centaure trieb einen jungen Wolf mit Tritten zu dem Rest des Rudels, das hilflos im Schnee kauerte. Der magere Körper einer alten Wölfin lag ein Stück abseits seltsam verdreht in dem aufgewühlten Weiß. Die Einhörner schüttelten ihre schillernden Mähnen, stießen boshaft schnaubend nach ihm. In einem Wirbel aus Kälte und Frost trat die Eiskönigin auf ihn zu. Ihr weißer Pelz schleifte hinter ihr her. Die Witterung, die immer noch an ihm hing, ließ ihn wimmern und sich flach auf den Boden pressen. Sie beugte sich zu ihm hinab. Sie, die ihn berührte, in der Kälte einen Zauber wob. Schmerz! Schmerz! Ihre Finger gruben sich in sein dichtes Nackenfell. Unter ihrer Hand gefror sein Körper. Sein Schrei wurde zu einem Winseln. Unkontrolliert zitterten seine Glieder. Ihr Griff verwandelte seine Knochen in Eis. Er versuchte, ihr die Hand zu lecken, und konnte noch nicht einmal mehr das.
»Lauf! Finde deinen Herrn! Sag ihm, dass ich es sehr bedauern würde, wenn euren Jungen etwas zustößt. – Aber unglücklicherweise kann mein Palast ein äußerst gefährlicher Ort sein, wenn man sich zu lange in ihm aufhält.« Ihr Reifatem strich über ihn, ließ sein Fell gefrieren. »Ich bin sicher, er wird verstehen.«
Zwei riesige weiße Wölfe, der eine, eine Narbe über der Schnauze, der andere mit nur noch einem halben Ohr. Ein dritter Wolf, ungleich größer. Weiß bis auf einen schwarzen Aalstrich, der zwischen seinen Augen beginnt. Augen, hell
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