Der Spiegel von Feuer und Eis
konnte er einen Schatten erkennen. Kaylen schlug nach ihm. Seine Hände griffen ins Leere. Wasser schwappte und spritzte, drang in seine Nase, in seinen Mund. Er musste husten, schluckte mehr davon. Heftig tastete er nach den Fingern, die sich unerbittlich in seine Schultern gruben, zerrte daran. In seiner Brust war ein Brennen. Seine Lungen verlangten nach Luft. Er wurde tiefer gedrückt, versuchte, sich aufzubäumen. Von einem Herzschlag auf den anderen waren
die Hände verschwunden. Das Wasser um ihn herum war mit einem Mal beißend kalt. Er schnellte in die Höhe und prallte gegen Eis. Entsetzen lähmte seine Sinne, während seine Hände gleichzeitig panisch über die Oberfläche fuhren, dagegentrommelten. Sie gab nicht nach. Das Brennen in seiner Brust verstärkte sich, wurde zu einem qualvollen Druck. Der Schatten war noch immer da. Kaylen sah ihn nur noch verschwommen. Angst würgte ihn, weckte eine schrille Stimme, die immer nur wiederholte: Ich will nicht sterben! Seine Fingernägel kratzten über die Eisdecke, brachen. Nur noch mit Mühe bezwang er den Drang, Atem zu holen. Dunkle Schlieren zogen durch das Wasser, trübten seinen Blick. In ihrem Verlangen nach Luft schienen seine Lungen bersten zu wollen. Seine Schläge gegen das Eis wurden mühsamer, schwächer. Die Stimme kreischte weiter, bis sich Dunkelheit über seine Sinne legte und die Welt um ihn her ertrank.
Das Nächste, was er wahrnahm, war das Eis, zu dem das Wasser auf seiner Haut erstarrte. Würgend und hustend sog er gierig die kalte Luft ein. Ein Tritt gegen die Schulter beförderte ihn unsanft auf den Rücken. Er konnte nichts anderes tun, als zittern und atmen. Um ihn her waren nur Schatten. Einer verbarg das Licht.
»Wie schmeckt die Angst vor dem Tod, Kaylen? Was meinst du, haben deine Opfer sie ebenso genossen wie du?« Ein verführerisches Schnurren, direkt neben seinem Ohr, so dunkel und eisig, dass das Blut in seinen Adern schlagartig gefror. Röchelnd rang er nach Luft. Frost strich über ihn hinweg. Hätten seine Glieder ihm gehorcht, wäre er davongekrochen. Ein Wimmern drang aus seiner Kehle. Unvermittelt fraß Kälte sich in seine Brust und in sein Auge. Schmerz zerriss, was die Todesangst von ihm übrig gelassen hatte. Das Letzte, was er hörte, war ein Schrei gellender Qual, der aus seinem eigenen Mund kam.
Atemlos kam Cassim hinter Gerdan zum Stehen und blickte in das Gemach, das sich hinter der mit Schnitzereien verzierten Doppeltür verbarg. Das Licht der im Raum verteilten Feuerbecken tanzte über ein Meer aus Rot und Gold. Teppiche und Felle bedeckten jede Handbreit des Bodens. Prachtvolle Wandbehänge schmückten die goldenen Mauern. Linkerhand stand ein ausladender Schreibtisch, bedeckt mit Pergamenten und ledergebundenen Folianten. Schatten nisteten in einer Fensternische. In einem hohen Kamin loderten Flammen, die sich im Eis spiegelten, über kostbare Statuen und Skulpturen aus Kristall und Edelsteinen huschten – jede einzelne beschädigt oder fast gänzlich zerstört – und für angenehme Wärme sorgten. Zu ihrer Rechten gruben weich gepolsterte Sessel ihre goldenen Klauenfüße in die Teppiche und luden zum Verweilen und Plaudern ein. Dahinter führten zwei Türen in benachbarte Räume. Eine war aufgestoßen. Langsam ging Gerdan auf sie zu. Cassim folgte ihr in einigem Abstand, während Ernan die Türen hinter ihnen verriegelte.
Der angrenzende Raum glich einem Schlachtfeld aus Wasser und Eis. Kälte trieb ihnen entgegen und verwandelte ihren Atem in weiße Wolken. Der Badezuber war bis zur Hälfte leer geschwappt. Um ihn herum glänzte eine spiegelglatt gefrorene Lache, an deren Rand Prinz Kaylen lag. Seine Haut war mit einer Schicht glitzernden Reifs bedeckt. In seinem Haar hing Eis. Jemand hatte die rot-goldene Uniform einer Stadtwache achtlos über seinen nackten Körper geworfen. Mit einem zitternden Atemzug trat Gerdan langsam näher, kniete sich neben ihn.
»Er lebt. Keine Sorge. Alles, was er braucht, ist ein heißes Bad.« Cassim fuhr zu Morgwen herum, der sich aus der Dunkelheit der Fensternische löste und auf sie zukam. Unter seinen
Schritten knirschte das Eis. Beinah glaubte sie, bei den letzten Worten etwas wie bösen Spott in seiner Stimme zu hören.
»Was hast du getan?« Fassungslos sah Gerdan zu ihm auf. Ihre Hand ging zu Kaylens frostüberzogener Brust.
»Er hat sich gewehrt.« Mit der Schulter lehnte Morgwen sich an den Türrahmen. Auf seiner Handfläche lag ein Stück Seide, das er
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