Der Spiegel von Feuer und Eis
stolperte, die Hand packte fester zu, hielt sie auf den Beinen. Nur noch etwa zwei Dutzend Schritte und sie würden das Tor erreicht haben. Ihr Mund war zu trocken zum Schlucken. Der Wunsch, sich loszureißen und davonzulaufen, wurde mit jedem Herzschlag mächtiger. Um sich herum hörte sie entsetztes Murmeln. Die Bewohner Jarlaiths starrten zu ihnen her.
Sie wagte einen kurzen Blick zu Gerdan hin, die ebenso gefesselt war wie sie selbst und von einem Mann vorwärtsgestoßen wurde, der in die rot-goldene Uniform der Stadtwache gekleidet war. Wirr und zerzaust hing ihr das dunkelbraune Haar im Gesicht. Ihr Gewand war über der Schulter zerrissen
und verriet, dass sie sich bei ihrer Gefangennahme gewehrt hatte. Kälte machte ihre Haut bleich und färbte ihre Lippen blau. Cassim wusste, dass sie nicht viel besser aussah. Und doch galt die Aufmerksamkeit der Leute allein Gerdan und ihrem Bewacher.
Ein paar Männer ballten die Fäuste. Andere legten die Hände auf die Griffe verborgener Dolche, näherten sich ihnen drohend. Ihre Häscher tauschten einen schnellen Blick, beschleunigten ihre Schritte und zerrten sie weiter durch die Menge. Beschimpfungen hallten zu ihnen herüber. Cassim sah, wie einige sich nach Eisbrocken bückten. Einer zersplitterte knapp neben dem Mann hinter ihr an einer Hauswand. Vor ihnen wurden Rufe laut. Die Bürger Jarlaiths wichen murrend zurück, machten den Palastwachen nur widerwillig Platz. Einige der Soldaten blickten nicht weniger entsetzt als die Männer und Frauen um sie herum, als sie in einer der beiden Gefangenen die Priesterin des Lords des Feuers erkannten. Beinah hilflos sahen sie einander an.
Der Gardist, der Gerdan gepackt hielt, hob die Faust in Schulterhöhe, als sich ein Offizier zwischen den Palastwachen hindurchschob. Der Mann neben Cassim folgte seinem Beispiel einen Herzschlag später.
»Wir haben diese beiden festgenommen, als sie aus dem erfrorenen Teil der Stadt kamen. Der Fremde, der bei ihnen war, konnte entkommen. Unsere Kameraden suchen noch nach ihm«, meldete er und starrte dabei geradeaus.
Seine Worte wurden mit einem Nicken zur Kenntnis genommen. »Wir übernehmen die Gefangenen.« Der Offizier winkte seinen Männern.
Die Hand an Cassims Arm schloss sich fester.
»Verzeihung, Herr.« Gerdans Bewacher blickte immer noch geradeaus. »Aber wir haben den Befehl, die Gefangenen persönlich vor Seine Hoheit, Prinz Kaylen, zu bringen. Immerhin hat Seine Hoheit einen Scheffel Korn für ihre Ergreifung ausgesetzt.«
Cassim schnappte nach Luft. Weder Ernan noch Gerdan hatten ihr von diesem Kopfgeld erzählt.
Der Offizier antwortete mit einer nachlässigen Geste. »Wir werden Euch Euren Anteil zukommen lassen. Übergebt uns …«
»Verzeihung, Herr, aber unsere Befehle sind eindeutig. Wir dürfen Euch die Gefangenen nicht übergeben.« Der Mann starrte weiter stur geradeaus.
Einen Moment zögerte der Offizier, dann trat er unwillig zurück und winkte sie weiter. Die Hand an ihrem Arm entspannte sich etwas. Als sie wenig später die Tore der Palastmauern passierten, sackte Cassims Herz aus ihrem Hals in die Tiefe. Überall Wachen!
Einer Magd entglitt ein Tonkrug und zerschellte auf dem eisüberzogenen Innenhof des Palastes, ehe sie sich umdrehte und auf eine kleine Seitenpforte zurannte. Ein Jernknecht vergaß, die dreigespaltenen Hufe des Tieres zu reinigen, das angebunden neben einer Tränke stand, und starrte zu ihnen her. Eine junge Palastwache erhob sich von der Bank, auf der er zusammen mit einigen Kameraden saß – und wurde unsanft von dem Mann neben ihm auf seinen Platz zurückgerissen.
Waren sie auf dem Weg hierher voll fassungslosem Entsetzen angestarrt worden, so bargen die Blicke nun nur noch bestürzte Erschütterung. Von all dem offenbar vollkommen unbeeindruckt, zerrten ihre beiden Bewacher Cassim und Gerdan über den gepflasterten Hof.
Breite Stufen führten zu dem mit goldenen Verzierungen geschmückten Portal des Palasts hinauf. Auf jeder wachte eine seltsam anmutende Kreatur mit mächtigen Schwingen. Einige kauerten auf ihren goldenen Absätzen, lauernd, bedrohlich, andere hatten sich aufgerichtet und sahen aus, als wollten sie sich jeden Augenblick in die kalte Luft erheben.
Gerdan und Cassim wurden an der weit geschwungenen Treppe vorbeigeführt und durch einen Seiteneingang geschoben.
Der Atem entwich ihr in einem Keuchen, als die Tür sich hinter ihnen mit einem dumpfen Laut schloss. Der Mann an Gerdans Seite nickte schweigend den
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