Der Spinnenmann
zögerte. »Leider weiß ich das nicht mehr. Es war kalt, er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut in die Stirn gezogen …«
»Wann hat er das Bild denn geholt?«
»Ja, das weiß ich noch genau. Das war zwei Tage vor dem großen Brand in der Dronningens gate.«
»Aha. Am Tag nach dem Mord an Rustad also …«
Ich bedankte mich bei Vik und Bergström für die Hilfe, steckte das Portrait wieder ins Packpapier und ging zur Ausgangstür, doch der Schwede rief mich zurück.
»Wenn Ihnen das weiterhelfen kann, dann weiß ich noch, dass er eine Art Armband trug, eine goldene Kette aus Herzen.«
Ich taumelte fast hinaus und blieb wie gelähmt auf dem Bürgersteig stehen, während die Menschen in nachmittäglicher Hektik an mir vorübereilten.
Jetzt hatte ich keinen Zweifel mehr. Auf irgendeine Weise war Lennart in den Rustadmord verwickelt gewesen. Wie hätte ich sonst erklären können, dass er am Tag nach dem Mord das Gemälde des Großhändlers geholt hatte?
Die Beerdigung
Zwei Wochen darauf stand Professor Harbitzens Ergebnis fest: Lennarts Zahnarztunterlagen stimmten mit den erhalten gebliebenen Plomben der Leiche überein. Er gehörte also zu den in der Dronningens gate Umgekommenen.
Lennart wurde an einem Freitagnachmittag begraben. Auf dem Nordre Gravlund lag der Schnee weiß und schwer zwischen den dunklen Grabsteinen. Ich ging ganz hinten im Trauerzug und stützte meine Mutter über den verdreckten Pfad, der hin zur Grabstätte der Familie Winther ausgetreten war.
Mutter hatte Lennart immer gern gemocht, und ihre Begeisterung hatte nicht abgenommen, als sie in den Illustrierten über seinen Erfolg auf Bühne und Leinwand lesen konnte. Sie hatte deshalb unbedingt dabei sein wollen, wenn er zur letzten Ruhe gebettet würde. Der kurze Weg von der Arendalsgate hierher hatte jedoch im Schneematsch seine Zeit gebraucht und wir waren erst in letzter Minute in der Kapelle eingetroffen. Aus der hintersten Bankreihe konnte ich die Anwesenden nicht erkennen. Erst am Grab stellte ich fest, dass nur Theaterleute gekommen waren.
Abgesehen von uns und Lennarts Vater.
Oskar Winther war in meiner Kindheit mein Idol gewesen. Der intellektuelle Arbeiter, dessen Gedichte in der Zeitung gedruckt waren und der am 1. Mai flammende Appelle vortrug. Als Lennart und ich beschlossen, im Kaysaal, dem alten Lagerhaus hinter dem Folkvang Kafe, eine Revue für die Arbeiterjugend zu inszenieren, schrieb er die Texte für den Sprechchor. Jetzt ging er als Erster im Trauerzug, bleich und eingesunken in seinem abgenutzten blauen Anzug. Er wirkte fehl am Platze, der Arme, zwischen so vielen Salonlöwen.
Am Grab ergriff auch nicht er das Wort, sondern der Schauspieler Per Kvist. Das kugelrunde rote Gesicht, das sonst vor schelmischer Munterkeit nur so strahlte, war düster und verhärmt. Die fantastische Rednergabe, die ihn so berühmt gemacht hatte, blieb jedoch unversehrt. Mit wohlmodulierter Stimme und kunstfertigen Pausen verbreitete er sich über Lennarts Talent, Humor und Schlagfertigkeit und würzte seine Rede mit Anekdoten aus Theater und Salon. Aber es fiel kein Wort über Lennarts frühe Karriere im dramatischen Theater der Arbeitervereine.
»Es ist ein schmerzlicher Verlust für die Kunst«, endete Kvist. »Lennart Winter gehörte zu Thaliens Kometen, die am Firmament der Kunst leuchten und Funken sprühen. Jetzt ist der Nachthimmel auf einmal für uns so finster und leer geworden.« Jemand schluchzte hinter mir auf. Ich schaute mich um und sah Kiss Lorenz mit einem schwarzen breitkrempigen Hut, rauchfarbenen Strümpfen und einem kurzen Persianerjäckchen. Sie stand zusammen mit Leif Amble-Naess, der ihr teilnahmsvoll den Arm um die Schulter gelegt hatte. Nach unserer ersten Begegnung verspürte ich keinen besonderen Drang, sie zu begrüßen. Aber sie war ja schließlich Lennarts Verlobte, deshalb riss ich mich zusammen, nachdem die Zeremonie mit einem Lied und einigen Schaufeln Erde abgeschlossen worden war. Ich ließ Mutter sich um Oskar Winther kümmern und bahnte mir einen Weg durch die Menge der teilnehmenden Bewunderer.
»Fräulein Lorenz, ich …«
»Ach, Erik!«
Zu meinem großen Schrecken fiel sie mir um den Hals und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Das ist so ungerecht. All die schönen Worte - die sind so leer, nicht wahr? Von allen hier haben nur du und ich Lennart gekannt, den wirklichen Lennart.«
Der intime Ton, der Duft des Parfüms und das Gefühl der tränennassen
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