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Der Spinnenmann

Der Spinnenmann

Titel: Der Spinnenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terje Emberland
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der Freiheitschor Aufstellung nahm und die Internationale gesungen wurde.
    Die ganze Zeit dachte ich an Kiss Lorenz.
    Es waren nämlich nur noch wenige Tage, bevor ich zum Solvann fahren wollte, um die Ferien mit ihr zu verbringen. Im Laufe des Frühlings waren wir uns recht nahe gekommen. Mindestens einmal in der Woche trafen wir uns, um ins Kino oder ins Theater zu gehen. Danach saßen wir im Restaurant, bis Kiss um halb eins den letzten Bus nehmen musste. Ich begleitete sie stets bis zum Jernbanetorv, wo der Linienbus in Richtung Ostmarka abfuhr. Die ersten Male nahm sie höflich meine Hand und bedankte sich für den netten Abend. Im Laufe der Zeit verloren die Abschiede den formellen Charakter. Wir verschmolzen in einer heißen Umarmung, die schon bald die ganze Nacht hätte andauern können, wenn es nicht die Angewohnheit des Busfahrers gegeben hätte, auf die Hupe zu drücken, sodass Kiss im letzten Moment aufspringen konnte. Er war ein pickeliger junger Mann mit einer Chauffeursmütze und hatte anscheinend keine anderen Interessen als den Fahrplan. Wäre er allerdings ein Dichter oder Hellseher gewesen, hätte er eins der wichtigsten Kapitel meines Lebens schreiben können: Die Geschichte vom 00.30-Uhr-Mädchen und dem jungen Mann, den sie mit Fieber im Blut, Sehnsucht im Herzen und schwellenden Drüsen am Jernbanetorv zurückließ.
    Das Liebesverhältnis mit Kiss rettete mich auch davor, nach Lennarts Tod zusammenzubrechen. Es mag so scheinen, als habe einzig und allein die solide Dosis eines ganz anders gelagerten Wahnsinns verhindern können, dass ich den Verstand verlor. Denn anders kann ich meine Verliebtheit in Kiss nicht beschreiben. Ich war derart besessen von ihr, dass ich das Interesse für alles andere verlor. Die faschistischen Diktaturen auf dem Kontinent wirkten mit einem Mal unendlich weit entfernt, die Arbeitslosigkeit war nicht mehr so erschreckend, und Sagenes Mangel an erfolgreichen Torschüssen eine pure Bagateile. Ich fühlte mich von allzu kleinen Kulissen umgeben, ich war ein Gigant in dieser Welt - ich war der Liebhaber von Kiss Lorenz.
    Und dennoch war ich es nicht - nicht im eigentlichen Sinne. Es lag überwiegend an mir, dass wir über das Küss- und Umarmungsstadium nicht hinauskamen. Jedes Mal, wenn wir eng umschlungen am Jernbanetorv standen, war ich kurz davor, auf Frau Wegers mögliche Einwände zu pfeifen und Kiss für eine Übernachtung in mein Zimmer einzuladen - doch es blieb beim bloßen Gedanken. Ich glaubte, sie wartete bloß auf meine Frage.
    So, wie ich mich aufführte, hätte man fast glauben können, dass ich völlig unerfahren war, doch das war nicht der Grund. Bei einer anderen Frau wäre jedwede Bescheidenheit verschwunden, sobald wir uns geküsst hätten, aber mit Kiss war es etwas anderes. Ich war unsicher, wie viel ihr körperliche Zärtlichkeiten eigentlich bedeuteten, denn schließlich verdiente sie ihr Brot damit, auf der Bühne oder im Filmstudio zarte Gefühle zu mimen. Ich will nicht behaupten, dass sie falsch war, doch sie hatte immer etwas von einer Schauspielerin an sich, unabhängig davon, wie leidenschaftlich sie war.
    Außerdem entdeckte ich bald eine sonderbare Doppelnatur an ihr. Die Jahre in Berlin hatten sie zur freimütigsten Frau gemacht, die ich kannte. Selbst einem modernen jungen Mann, der Karl Evang und Max Hodann gelesen hatte, fiel es schwer, ihre Ansichten über Sexualität anzuhören, ohne rot zu werden. Mitunter allerdings konnte sie eine seltsame Scheu an den Tag legen, die anscheinend in einer vollkommen grundlosen Selbstverachtung wurzelte. Beispielsweise mochte sie es nicht, wenn ich schweigend da saß und sie anblickte.
    »Meine Güte …«, beklagte sie sich dann. »Warum siehst du mich so an?«
    »Du bist so unglaublich schön! Ich kann meinen Blick ganz einfach nicht von dir abwenden.« Sie schauderte.
    »Das wirst du hübsch lernen müssen, Erik. Denn wenn du mich zu lange betrachtest, wirst du schließlich feststellen, dass ich überhaupt nicht schön bin.« Sie beugte sich zu mir und sagte mit ernster Stimme: »Du hast noch nicht mein ganzes Ich gesehen, so wie ich wirklich bin, Erik. Vergiss das nicht!«
    Sie hatte natürlich recht. Erst wenn ich sie hinter der Bühne träfe, würde ich sie ohne Kiss-Lorenz-Maske zu sehen bekommen. Doch dazu hatte sie mich noch nicht eingeladen.
    Das geschah erst Ende Mai.
    Wie üblich standen wir am Jernbanetorv und hielten uns umarmt, als sie mir tief in die Augen blickte. »Weißt du,

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