Der Spinnenmann
Rustad in Vaterland gesehen hatte. Sein Anblick bewirkte, dass alle möglichen absurden Gedanken durch meinen Kopf wirbelten. Ich bildete mir ein, der schwarze Wagen sei ein Beweis dafür, dass Lennart noch lebte, auch wenn ich wusste, dass der Wagen seit Januar hier abgestellt war. Das hatte Kiss mir erzählt.
Ich lief rasch weiter. Nach einer Viertelstunde erreichte ich Lorentsens Landhaus. Ich begriff sogleich, warum Kiss bei der Erwähnung dieses Ortes nie von einem Ferienhaus gesprochen hatte; es wäre für das schöne Gebäude eine völlig irreführende Bezeichnung gewesen. Es lag ein Stückchen erhöht auf einem Hügel nördlich des Solvann und war im Drachenstil erbaut, mit offenem Umgang und hervorstehendem oberen Stockwerk. Beinahe musste ich mir die Augen reiben: Genauso hatte ich mir immer den Königshof im Märchen vorgestellt. Auch an der Lage war nicht das Geringste auszusetzen. Das Haus war umringt von hohen Kiefern, und an der Vorderseite gab es eine breite, mit Steinplatten belegte Terrasse mit Aussicht auf das Wasser.
Ich hatte eigentlich erwartet, Kiss auf der Terrasse anzutreffen, doch da irrte ich mich. Weit entfernt konnte sie allerdings auch nicht sein. Die Haustür stand offen. Ich stieg die geteerten Stufen zum Windfang hinauf und rief: »Hallo! Ist jemand zu Hause?«
Ich glaubte, drinnen Stimmen zu hören, aber niemand kam heraus. Ich betrat das Wohnzimmer. Es schien renoviert worden zu sein, Decke und Wände waren frisch gestrichen. Das Wohnzimmer war für ein Sommerhaus ungewöhnlich eingerichtet, es gab einen Schreibtisch aus geflammtem Birkenholz, ein Sofa, zwei tiefe Sessel und mehrere Bücherregale. Neben dem Kamin führte eine Treppe in das obere Stockwerk. Ich hatte den Eindruck, mich in einem modernen Sommerhaus auf Nesodden zu befinden und nicht in einer alten Drachenvilla tief im Wald.
Ich stellte meinen Rucksack ab und stemmte die Hände in die Hüften.
»Hallo!«, rief ich noch einmal. »Ist niemand da, um einen erschöpften Wandersmann willkommen zu heißen?«
Dieses Mal gab es leicht zu identifizierende Geräusche. Ich hörte rasche Schritte im Obergeschoss, und einen Augenblick später kam Kiss die Treppe heruntergerannt. Sie bremste nicht ab, als sie mich entdeckte, sondern warf sich mir mit solcher Kraft in die Arme, dass ich fast nach hinten umgestürzt wäre.
»Oh, Liebling!«, schluchzte sie. »Es tut mir so leid!«
Dann verfiel sie in ein furchtbares Weinen.
»Aber Liebste«, sagte ich erschrocken. »Was ist denn geschehen?«
Aber es war gar nicht so einfach, ihr eben das zu entlocken. Sie hörte zwar bald auf zu weinen, wurde deswegen aber auch nicht gesprächiger. Ebenso wenig half es, dass ich meine Frage wiederholte, denn sie schüttelte bloß den Kopf, und die Tränen kamen zurück. Die ganze Zeit klammerte sie sich krampfartig an mich, so als habe sie Angst, dass ich sie wieder verlassen würde.
Schließlich wurde ich ungeduldig.
»In Gottes Namen, Kiss! Du kannst mir doch wohl erzählen, wo das Problem liegt?«
»Wenn du nicht böse wirst…«
»Aber nein, ich werde nicht böse, das weißt du doch!«
Sie legte den Kopf an meine Brust. Nach einer Weile sagte sie: »Ich weiß, wie sehr du dich auf diese Ferien gefreut hast, Erik. Und das habe ich auch - bitte versteh mich nicht falsch! Aber…«
Sie schwieg.
»Was denn?«
»Ich brauche mehr Zeit, verstehst du …« In meinem Innern wurde es kalt.
»Du bist dir nicht sicher, ob du mich gern hast, meinst du?« Sie blickte mich ernst an.
»Aber ja doch. Ich bin mir meiner selbst nicht sicher. Du verdienst eine Bessere …«
»Unsinn! Ich will nur dich. Punkt. Und natürlich nimmst du dir die Zeit, die du brauchst. Ich will mich auch überhaupt nicht aufdrängen.«
Sie lächelte dankbar. »Ach Erik. Ich wusste es. Du bist ein Gentleman.«
Ich hatte mir den Beginn meiner Ferienwoche etwas anders vorgestellt. Kiss hatte eine verbotene Zone errichtet, ohne anzugeben, wo genau sie sich befand; die ganze Zeit musste ich auf der Hut sein, diese Grenzen nicht unbeabsichtigt zu übertreten. Zumeist verhielt sie sich ganz normal; wir gingen im Kiefernwald spazieren, bereiteten gemeinsam das Essen, lagen den ganzen Abend auf einem Sofa im Wohnzimmer und nippten an einem Glas Wermut. Doch dann konnte es passieren, dass ich einen völlig harmlosen Vorschlag machte und sie bockbeinig wurde. Sie wollte partout nicht mitkommen und im Solvann baden, obwohl wir uns in der Hitze fast auflösten. Als ich ihr
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