Der Spinnenmann
was ich mir wünschen würde, Erik?«
»Nein, was denn, Liebling?«
»Dass du und ich zusammen sein können, wenn du Urlaub bekommst.«
»Ist das dein Ernst?« Sie lächelte.
»Bitte missversteh mich nicht. Ich habe nicht vor, mit dir auf den Kolsäs-Felsen herumzuklettern. Aber es gibt auch Berge, dort wo ich wohne …«
Ich nickte beflissen.
»Ja, Hauktjern, zum Beispiel. Das wollte ich schon lange mal probieren!«
Sie lachte fröhlich.
»Dann ist die Antwort also ja! Du wirst es nicht bereuen, Erik. Der Landsitz ist größer und schöner, als du dir vorstellen kannst. Und am Solvann ist es wunderschön - und so ungestört! Ich kann alle Kleider ausziehen und splitternackt herumlaufen, wenn ich Lust dazu habe. Ich kann auf der Terrasse vor dem Haus liegen und mich sonnen. Völlig nackt.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann legte sie ihre Wange an meine Brust und sah verträumt in den Himmel.
»Ich freue mich so darauf, dass du kommst! Dann werde ich ein Feuer im Kamin machen und uns den besten Wermut der Welt mixen. Und ich bringe dir das Frühstück ans Bett…«
»Ganz nackt?«
Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Ja, das könnte dir so passen!«
Dann wurde sie plötzlich traurig. »Ich wünschte, ich wäre genauso, wie du mich haben willst, Erik.«
»Aber das bist du doch, Kiss!«, sagte ich tröstend. »Davon bin ich völlig überzeugt.«
Sie sah mich lange an. Ihr Mund begann zu zittern, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein. Da irrst du dich. Ich bin immer noch so, wie Lennart mich haben wollte …«
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar.
»Was meinst du damit?«
Ich habe nie erfahren, was sie erwidern wollte. Im selben Moment hupte der Busfahrer. Kiss wirkte erleichtert. Wortlos riss sie sich los und hastete in den Linienbus. Als er abfuhr, versuchte ich ihr zuzuwinken, doch sie hatte das Gesicht in den Händen verborgen und sah mich nicht.
Ritter der Axt
Mitte Juni war es endlich soweit, dass ich den Linienbus der Ekebergbahn hinaus zum Solvann nehmen konnte. Es war herrliches Wetter, was zur Folge hatte, dass die Zeitungen nicht länger Zuflucht zu den Gerüchten über die Spukflugzeuge nehmen mussten und sich stattdessen in wilden Spekulationen über das Klima ergehen konnten. Am weitesten wagte sich dabei Morgenposten vor, die meinte, die Erde müsse sich im letzten Jahr so gedreht haben, dass Norwegen nun auf einem tropischen Breitengrad liege. Dies sei die Erklärung für den milden Winter und den unerträglich warmen Sommer. Bald würden Kokospalmen auf der Karl Johan wachsen, prophezeite die Svasrta Morgenposten, und für die weibliche Bevölkerung Oslos gehörten Bastrock und ein Orchideenkranz um den Hals zur künftigen Sommermode.
Ich hatte mehr als genug eigene Spekulationen, als ich in dem warmen Bus auf meinem Sitzplatz hin- und hergeworfen wurde. Am liebsten hätte ich mich hemmungslosen Fantasien über die kommenden Tage mit Kiss hingegeben, die nach eigener Aussage eine Sommermode bevorzugte, welche die Osloer Frauen der Zukunft vergleichsweise prüde wirken ließ. Doch die verlockenden Gedanken konnten sich nicht dauerhaft und friedvoll entfalten, denn immer wieder wurden sie von einem eisigen Gefühl unterbrochen, das sich in meinem Körper ausbreitete. Es war, als hätte Lennart Winther ein Auge auf mich. Und er war schlichtweg nicht erfreut darüber, dass ich ihm Kiss wegnahm.
Nach einer Dreiviertelstunde hielt der Busfahrer am Trasop-Gehöft am Rande der Ostmarka. Er wandte sich zu mir um. »Hier müssen Sie aussteigen«, sagte er. »Wenn Sie dem Pfad da vorne links durch den Wald folgen, kommen Sie nach zwanzig Minuten zu Lorentsens Landhaus.«
Ich bedankte mich und stieg aus. Noch lange, nachdem der Bus abgefahren war, stand ich mitten auf dem Waldweg. Keine Wolke war am Himmel, die Sonne brannte, und der Nadelwald stand völlig unbewegt in der flirrenden Hitze. Konnte sich ein junger Mann einen perfekteren Tag wünschen, um seiner Geliebten zu begegnen? Ich beschloss, das alberne Schuldgefühl zu vergessen, warf mir den Rucksack mit Kletterausrüstung, Wäsche, ein paar Konservendosen und einer ganzen Flasche Martini über die Schultern und betrat den Pfad zur Linken. Ich war kaum ein paar Schritte gelaufen, als ich abrupt stehenblieb.
Ein schwarzer Chrysler war zwischen den Bäumen geparkt. Es war der Wagen, den Lennart und Manteuffel benutzt hatten, als ich sie fünf Tage vor dem Mord an
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