Der Spion, der aus der Kälte kam
Leamas.
»Ja.«
Sie ließ ihn in seiner Nische allein, und nach kurzem Zögern nahm er ein Buch vom Regal und las das Titelblatt. Das Buch hieß »Archäologische Entdeckungen in Kleinasien, Band vier.« Man schien hier nur Band vier zu haben.
Es war ein Uhr und Leamas war sehr hungrig, er ging deshalb zu Liz Gold hinüber und sagte: »Wie steht es mit dem Mittagessen?«
»Ich bringe mir immer Brote mit.« Sie sah etwas verlegen aus. »Sie können davon haben, wenn Ihnen damit gedient ist. Es gibt hier meilenweit kein Café.«
Leamas schüttelte den Kopf.
»Ich werde weggehen. Vielen Dank. Muß außerdem einige Einkäufe machen.«
Sie sah ihm nach, als er durch die Schwingtür ging.
Es war halb drei, als er zurückkam. Er roch nach Whisky. Er schleppte zwei Tragtaschen mit Lebensmitteln. Er stellte sie in einer Ecke der Nische ab und begann widerwillig seine Arbeit bei den Archäologiebüchern fortzusetzen. Er hatte ungefähr zehn Minuten gearbeitet, als er bemerkte, dass ihn Miß Crail beobachtete.
»Mr. Leamas!« Er war halb oben auf der Leiter, deshalb schaute er nur über seine Schulter hinunter und sagte:
»Ja?«
»Wissen Sie, woher diese Beutel kommen?«
»Es sind meine.«
»Aha, es sind Ihre.« Leamas wartete.
»Ich bedaure«, fuhr sie schließlich fort, »dass wir es nicht gestatten können, Einkäufe in die Bibliothek mitzubringen.«
»Wo soll ich sie sonst lassen? Ich kann sie nirgendwo anders hinstellen.«
»Nicht in die Bibliothek«, erwiderte sie.
Leamas ignorierte sie und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Regal zu.
»Wenn Sie die vorgeschriebene Mittagspause einhielten«, fuhr Miß Crail fort, »würden Sie keine Zeit zum Einkaufen haben. Niemand von uns hat das, weder Miß Gold noch ich selbst. Wir haben keine Zeit zum Einkaufen.«
»Warum nehmen Sie sich nicht eine halbe Stunde frei?« fragte Leamas. »Dann würden Sie Zeit haben. Wenn Sie mit der Arbeit in Druck geraten, könnten Sie abends eine halbe Stunde anhängen, falls es nötig ist.«
Sie blieb einige Augenblicke stumm, indem sie ihn beobachtete und offensichtlich nach einer Antwort suchte. Schließlich kündigte sie an: »Ich werde es mit Mr. Ironside besprechen.« Dann ging sie weg.
Punkt halb sechs zog Miß Crail ihren Mantel an und ging mit einem betonten »Gute Nacht, Miß Gold«. Leamas schätzte, dass sie den ganzen Nachmittag wegen der Einkaufsbeutel gegrübelt hatte. Er ging zur nächsten Nische, wo Liz Gold auf der untersten Sprosse ihrer Leiter saß und etwas las, das wie ein Traktat aussah. Als sie Leamas sah, ließ sie es schuldbewußt in ihrer Handtasche verschwinden und stand auf.
»Wer ist Mr. Ironside?« fragte Leamas.
»Ich glaube nicht, dass er existiert«, sagte sie. »Er ist ihr großes Geschütz, wenn sie um eine Antwort verlegen ist. Ich fragte sie einmal, wer er sei. Sie wurde unruhig und geheimnisvoll und sagte: ›Schon gut.‹ Ich glaube nicht, dass es ihn gibt.«
»Ich bin nicht sicher, dass es Miß Crail gibt«, sagte Leamas, und Liz Gold lächelte.
Um sechs Uhr schloß sie ab und gab den Schlüssel dem Kurator, einem sehr alten Mann, der aus dem Ersten Weltkrieg einen Schock weghatte und der für den Fall, dass die Deutschen einen Gegenangriff machten, die ganze Nacht aufblieb, wie Liz erklärte. Draußen war es bitterkalt.
»Haben Sie weit zu gehen?« fragte Leamas.
»Zwanzig Minuten. Ich gehe immer zu Fuß. Wie ist es bei Ihnen?«
»Nicht weit«, sagte Leamas. »Gute Nacht.«
Er ging langsam zur Wohnung zurück. Nachdem er aufgesperrt hatte, drehte er den Lichtschalter, aber nichts geschah. Er versuchte, das Licht in der winzigen Küche anzudrehen und schließlich die elektrische Heizung, die bei seinem Bett angeschlossen war. Auf der Fußmatte an der Tür lag ein Brief. Er hob ihn auf, nahm ihn mit hinaus in das dünne gelbe Licht des Treppenaufganges. Es war ein Schreiben der Elektrizitätsgesellschaft, die mitteilte, dass der Distriktsleiter es bedauere, keine andere Möglichkeit zu haben, als den Strom solange abzuschalten, bis der ausstehende Betrag von neun Pfund, vier Shilling und acht Pennies beglichen sei.
Er war ein Feind von Miß Crail geworden, und sie liebte es, Feinde zu haben. Sie blickte ihn entweder finster an oder übersah ihn einfach, und wenn er ihr nahe kam, begann sie zu zittern und ihre Augen nach rechts und links wandern zu lassen, entweder auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen konnte, oder nach einem Fluchtweg. Gelegentlich
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